Archiv


Der Fall Federer. Priester und Schriftsteller in der Stunde der Versuchung. Eine erzählerische Recherche

Der Schweizer Heimatdichter Heinrich Federer sei "der katholische Kontrapunkt zu Gottfried Keller", das schrieb der Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, Eduard Korrodi, in seiner Laudatio zu Federers 50. Geburtstag im Jahre 1916. Ein starkes Lob für einen Mann, der knapp 15 Jahre zuvor im selben Blatt noch höhnisch als "Wolf in Schafskleidern" bezeichnet worden war. Am 2. August 1902 nämlich war Heinrich Federer an der Talstation der Zahnradbahn am Stanserhorn verhaftet worden. Der schwerwiegende Verdacht gegen ihn lautete: "widernatürliche Befriedigung des Geschlechtstriebes, begangen an einem zwölfjährigen Knaben". Ein höchst skandalöser Fall, zumal Federer nicht nur ein angesehener Publizist war, sondern auch katholischer Priester. Allerdings auch ein Fall, der in Vergessenheit geriet. Zwar ist Federer zunächst gesellschaftlich und materiell ruiniert, verliert seine Arbeit und seine Wohnung. Trotzdem gelingt ihm ein paar Jahre später der literarische Durchbruch: Er gewinnt 1909 einen Novellenwettbewerb in einer der meistgelesenen Literaturzeitschriften Deutschlands, in der Jury sitzt unter anderem Hermann Hesse. Die Auszeichnung bringt ihm nicht nur einen hochdotierten Preis ein, sondern auch einen Verlag, der mit Federer wiederum einen Bestseller-Autor platziert. Seine Romane "Berge und Menschen" oder "Das Mätteliseppi" erreichen eine ebenso hohe Auflage wie etwa die Alpenromane eines Ludwig Ganghofer. Als Federer 1928 stirbt, ist er - nicht zuletzt dank Eduard Korrodi von der Neuen Zürcher Zeitung - auch in der Schweiz wieder gesellschaftlich rehabilitiert und hoch dekoriert. Nun gilt er als der beste Chronist der Zentralschweiz, die Stanserhorn-Affaire wird indessen mit einem Tabu belegt. Diesem Tabu widmet sich Pirmin Meier in seinem detaillierten, historischen Report.

Christel Wester |
    "Der Fall Federer" ereignete sich zwar vor 100 Jahren, besitzt aber durchaus eine gewisse Aktualität, wo sich derzeit sogar der Papst zu einer Stellungnahme in Sachen Pädophilie und Priestertum genötigt sieht. Allerdings unterlässt Pirmin Meier in seinem Buch Abstecher in die Gegenwart, er konzentriert sich ganz auf den historischen Fall, den er geradezu minutiös rekonstruiert. Dabei greift er jedoch die traditionsreiche Problematik der Knabenliebe in der katholischen Kirche in beziehungsreichen Anspielungen auf. Vor allem aber zeichnet Meier ein Sittengemälde der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wobei sein Hauptinteresse dem damals immer noch virulenten Kulturkampf gilt. Die katholischen Kantone stehen im Konflikt mit den reformierten und mit dem freisinnigen Zürich. Pirmin Meier hat Gerichtsakten und Briefwechsel gesichtet und nicht nur die überregionale Schweizer Presse, sondern auch sämtliche Lokalpostillen ausgewertet. Die protestantische Schweiz jubelt, die Verhaftung Federers liefert reichlich Munition gegen das katholisch-konservative Lager, das sich wiederum verteidigt, indem es sich an der Schlammschlacht gegen Federer beteiligt. Der aber sitzt derweil noch in Untersuchungshaft, und am Ende kann man ihm den sexuellen Missbrauch nicht nachweisen. Wegen der öffentlichen Vorverurteilung wagt das Gericht jedoch keinen Freispruch und verhängt eine Strafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Nach außen hin ist Heinrich Federer zwar zunächst eine Persona non grata, aber letztlich kann er sich doch auf einflussreiche Persönlichkeiten in der katholischen Diaspora in Zürich verlassen, und selbst der Papst währt ihm noch Audienz.

    Pirmin Meier zelebriert einen süffisanten ironischen Stil, denn es geht ihm erklärtermaßen darum, "ein verklemmtes Stück schweizerischer Identität" darzustellen. Naturburschenkult und urschweizer Rituale kommen in seinem Buch ebenso vor, wie der Alpentourismus um die Jahrhundertwende und die Etikette in exquisiten Hotels. Dabei sieht er den "Fall Federer" nicht nur als politisches Ränkespiel an, sondern widmet sich zugleich dem Seelendrama eines streng katholischen Schriftstellers mit homoerotischen und pädophilen Neigungen. Was sich in der Nacht vor Federers Verhaftung im Hotelzimmer auf dem Stanserhorn zwischen dem Gottesmann und dem zwölfjährigen Bürgersohn aus allerbesten Zürcher Verhältnissen abgespielt hat, weiß niemand genau. Verdächtig machte sich das ungleiche Paar allein dadurch, dass es den diskreten Hinweis des Hotelportiers missachtete und ein Doppelzimmer anmietete, was damals nur für Eheleute schicklich war. Eine lautstarke Kissenschlacht deutet ein Zimmernachbar als unsittliches Treiben, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Anhand von Verhörprotokollen und Tagebuchnotizen Federers schildert Pirmin Meier - wie er im Untertitel seines Buches verspricht - die "Stunde der Versuchung", der der Priester nur mit knapper Not widerstanden habe. Dabei enthält sich Meier jeglicher moralischer Wertung, er will lediglich das Tabu brechen, das die Stanserhorn-Affaire nach Federers literarischem Erfolg umgibt. In seinem bis in die 60er Jahre hinein vielgelesenen Werk nämlich habe Heinrich Federer seine erotische Affinität zu Knaben und auch eine gewisse sado-masochistische Neigung offenkundig sublimiert.

    Auf jeden Fall füllt Pirmin Meier mit seinem Buch über den "Fall Federer" eine Lücke in der Schweizer Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung. Dass man allerdings nach der Lektüre seiner überaus materialreichen und darin mitunter auch ermüdenden Darstellung nun die unbedingte Lust verspürte, sich dem Werk des inzwischen lange Zeit vergessenen Schriftstellerpriesters zu widmen, wäre eine falsche Behauptung. Schließlich gibt Pirmin Meier am Schluss seines akribischen Opus selbst zu, dass der Dichter "die letzten künstlerischen Konsequenzen nicht gezogen" habe. "So liegt am Ende", schreibt er, "eine allzu brave Geschichte vor".