Pirmin Meier zelebriert einen süffisanten ironischen Stil, denn es geht ihm erklärtermaßen darum, "ein verklemmtes Stück schweizerischer Identität" darzustellen. Naturburschenkult und urschweizer Rituale kommen in seinem Buch ebenso vor, wie der Alpentourismus um die Jahrhundertwende und die Etikette in exquisiten Hotels. Dabei sieht er den "Fall Federer" nicht nur als politisches Ränkespiel an, sondern widmet sich zugleich dem Seelendrama eines streng katholischen Schriftstellers mit homoerotischen und pädophilen Neigungen. Was sich in der Nacht vor Federers Verhaftung im Hotelzimmer auf dem Stanserhorn zwischen dem Gottesmann und dem zwölfjährigen Bürgersohn aus allerbesten Zürcher Verhältnissen abgespielt hat, weiß niemand genau. Verdächtig machte sich das ungleiche Paar allein dadurch, dass es den diskreten Hinweis des Hotelportiers missachtete und ein Doppelzimmer anmietete, was damals nur für Eheleute schicklich war. Eine lautstarke Kissenschlacht deutet ein Zimmernachbar als unsittliches Treiben, und das Unheil nimmt seinen Lauf. Anhand von Verhörprotokollen und Tagebuchnotizen Federers schildert Pirmin Meier - wie er im Untertitel seines Buches verspricht - die "Stunde der Versuchung", der der Priester nur mit knapper Not widerstanden habe. Dabei enthält sich Meier jeglicher moralischer Wertung, er will lediglich das Tabu brechen, das die Stanserhorn-Affaire nach Federers literarischem Erfolg umgibt. In seinem bis in die 60er Jahre hinein vielgelesenen Werk nämlich habe Heinrich Federer seine erotische Affinität zu Knaben und auch eine gewisse sado-masochistische Neigung offenkundig sublimiert.
Auf jeden Fall füllt Pirmin Meier mit seinem Buch über den "Fall Federer" eine Lücke in der Schweizer Geschichts- und Literaturgeschichtsschreibung. Dass man allerdings nach der Lektüre seiner überaus materialreichen und darin mitunter auch ermüdenden Darstellung nun die unbedingte Lust verspürte, sich dem Werk des inzwischen lange Zeit vergessenen Schriftstellerpriesters zu widmen, wäre eine falsche Behauptung. Schließlich gibt Pirmin Meier am Schluss seines akribischen Opus selbst zu, dass der Dichter "die letzten künstlerischen Konsequenzen nicht gezogen" habe. "So liegt am Ende", schreibt er, "eine allzu brave Geschichte vor".