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Der "gekreuzte Blick" auf den Kolonialismus

Im Kampf um Kolonien galt Deutschland lange als der "zu spät gekommene Staat". Während Großbritannien über Jahrhunderte sein Empire aufgebaut hatte, errichtete Deutschland erst 1884 mit Deutsch-Südwestafrika seine erste Kolonie. Die Historikerin Ulrike Lindner geht den Verflechtungen der beiden Kolonialmächte nach.

Von Birgit Morgenrath |
    Mit ihrem "gekreuzten Blick" betritt die Studie Neuland - und um es gleich vorwegzusagen: Diese Verflechtungsgeschichte der deutschen und englischen Kolonien in Ost- und Südafrika ist äußerst spannend zu lesen. Die histoire croisée erlaubt eine viel komplexere und damit realitätsnahe Analyse als die bislang übliche hermetische Geschichte einzelner Kolonien und ihrer Mutterländer. Ein Beispiel: Die Sicht der Kolonialherren auf den kolonialen Konkurrenten prägte nicht nur die Selbstwahrnehmung, sondern wirkte auch auf die eigene Herrschaftspraxis zurück: Die recht lautstarke, aufstrebende deutsche Kolonialbewegung wollte vom "kolonial-tüchtigen" England lernen. Gleichzeitig grenzte sie sich aber von ihrem Vorbild ab und prangerte die angeblich liberale Haltung der Briten gegenüber der afrikanischen Bevölkerung als zu lasch an:

    "Wir sehen das in der englischen Kolonie Sierra Leone, wo die Unverschämtheit der Eingeborenen ganz ungeheuerliche Grade erreicht hat, wo europäische Damen sich nicht mehr auf den Markt getrauen, aus Furcht, von den Eingeborenen insultiert zu werden, wenn sie die Preise beanstanden. Es sind unverzeihliche Fehler gemacht worden, indem man die Zügel allzu lose am Boden schleifen ließ und aus missverstandener Humanität die berechtigten Interessen der weißen Rasse gegenüber denen der Farbigen vernachlässigte,"

    schreibt der deutsche Tropenmediziner Hans Ziemann 1913, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als die Kritik der Deutschen an den britischen Konkurrenten immer unverblümter ausfiel. Umgekehrt verurteilten die britischen Kolonialexperten die ausufernde Bürokratisierung und Brutalität der "unerfahrenen Neulinge" aus dem Deutschen Kaiserreich – so etwa der Publizist Louis Hamilton 1910 in der Zeitschrift United Empire.

    "Der Deutsche ist geschickt darin, gegenüber den Eingeborenen barsch, grausam und herrisch zu sein. Das stammt wohl zum Teil von der militärischen Disziplin zu Hause und führt dazu, dass er Untergebene tyrannisch behandelt, seien sie schwarz oder weiß. Diese Exzesse nennen sie "Tropenkoller", ein Euphemismus, für ihre Lust, Schwarze zu schlagen. Das (deutsche) bürokratische System - mit Steuern, Vorschriften für Zensur sowie Nachtruhe und Ausgangssperre sind in den Kolonien mit aller Macht eingeführt worden. Ein größerer Gegensatz zu den wichtigsten Prinzipien kolonialer Politik wird schwerlich zu finden sein."

    Diese Kritik der Briten diente auch dazu, eigene Grausamkeiten an Einheimischen herunterzuspielen, schreibt die Buchautorin Ulrike Lindner. Bislang in der Forschung weitgehend unerwähnt geblieben ist zudem, dass sich die beiden Kolonialmächte gegenseitig kontrollierten: Während des Vernichtungsfeldzuges gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika Anfang der 1890er Jahre etwa waren zwei englische Offiziere nacheinander als offizielle Beobachter in der deutschen Kolonie. Die Briten, die die Enklave Walfischbucht und die benachbarte Kapkolonie in Südafrika beherrschten, nahmen den Genozid der deutschen "Schutztruppe" an der indigenen Bevölkerung nur am Rande zur Kenntnis. Sie interessierten sich vielmehr für die Kommunikationsstrukturen, für Transport, Post, Eisenbahn.

    "Der infrastrukturelle Ausbau der deutschen Kolonie im Süden war für Großbritannien und die Kapkolonie sowohl militärisch als auch wirtschaftlich von großem Interesse für die eigene koloniale Kriegsführung."

    Aus britischer Sicht wurde der Genozid in Deutsch-Südwestafrika, so Lindner,

    " … als notwendig zur Durchsetzung der Kolonialherrschaft erachtet und die Ausschreitungen der Deutschen wurden zwar kritisiert, aber im Kontext des Krieges meist toleriert."

    Das Hauptziel teilten alle imperialen Mächte: den Machterhalt. Dies ist nur ein herausragendes Beispiel aus Hunderten, mit denen Ulrike Lindner den Kolonialismus als Beginn einer stark vernetzten, hochkommunikativen Globalisierung darstellt. Das zeigt die Autorin auf vielen weiteren Ebenen auf: Angefangen von den Begegnungen der Händler, Kolonialbeamten und Unternehmer auf den langen Schiffspassagen bis hin zu den Diners in den Klubs der kolonialen Hauptstädte. Experten, häufig Ingenieure, boten ihre Dienste in verschiedenen Kolonien an. Die Deutschen waren in Ostafrika auf die britischen Telegrafenleitungen angewiesen, die Briten bewunderten die deutschen Eisenbahnen und Häfen, etwa in Daressalam. Daheim trafen sich Kolonialpolitiker und -experten auf vielen internationalen Kongressen, beispielsweise auf dem "First Universal Races Congress" 1911 in London, während das "Institut Colonial International" in Brüssel all dieses Wissen sammelte und archivierte. Lindner zeichnet akribisch die Unterschiede in den kolonialen Regimen nach, die zwischen Selbstwahrnehmung und Außendarstellung, zwischen Gemeinsamkeit und Abgrenzung changierten: Das britische Königreich verstand sich als erfahrenes, anderen Kolonialmächten weit überlegenes, flexibel agierendes, weltumspannendes Empire – und wollten doch von deutscher Kriegsführung und Infrastruktur lernen. Die Deutschen wiederum sorgten sich sehr um ihr Prestige als "späte" imperiale Macht, pflegten ein zutiefst rassistisches Herrenmenschentum und wollten doch von den englischen Rechtssystemen und Verwaltungen lernen. Lindners Werk liefert bemerkenswerte, spannende Perspektiven und überraschende Erkenntnisse über den europäischen Kolonialismus als transnationales Projekt. Die einer Habilitationsschrift geschuldeten formalen, häufig abstrakten Passagen lassen sich leicht überfliegen. Das Buch ist ein gelungenes Beispiel für den vergleichenden Ansatz in der Geschichtsforschung: Eine komplexe Verflechtungsgeschichte.

    Ulrike Lindner: Koloniale Begegnungen. Deutschland und Großbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880 – 1914.
    Campus Verlag. 533 Seiten. 56 Euro