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Der inszenierte Überfall

Ein angeblicher polnischer Überfall auf den Radiosender Gleiwitz, der in Wahrheit von der SS organisiert war, diente Deutschland vor 70 Jahren als Vorwand für den eigenen Überfall auf Polen und den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Sender Gleiwitz steht noch heute: Man kann die Räume besichtigen, in denen der inszenierte Überfall damals stattfand. Inzwischen gibt es auch ein Museum, das gerade modernisiert worden ist.

Von Philipp Jusim | 30.08.2009
    Andrzej Jarczewski: "Gehen wir hier lang. Bitte sehr."

    Der Sender Gleiwitz im Sommer 2009. Es wird gebaut, denn zum Jahrestag des sogenannten "Überfalls", am 31. August, soll alles schön sein, wie man in der Stadt sagt. Schön, das heißt, es wird renoviert und umgestaltet: Die Schrebergärten rund um den alten Sendemast sind verschwunden. Stattdessen wühlen Bagger die Erde auf, kein Baum, kein Strauch mehr, denn das Gelände soll jetzt ausschließlich dem Gedenken gewidmet sein. Umgebaut wird auch das Museum im ehemaligen Betriebsgebäude des Senders. Seit 2005 besteht es, nun, zum Jahrestag, soll es mehr als nur einen neuen Anstrich bekommen. Der Museumsverwalter Andrzej Jarczewski versucht, so viele authentische Stücke vor den Bauarbeitern zu retten, wie möglich:

    "Das ist ein Originalscharnier vom deutschen Zauntor. Das Holztor ist zwar neu, also aus der Nachkriegszeit, doch alle eisernen Elemente, die dazugehören, versuchen wir, als Originale zu erhalten. Und auch hier sind viele interessante Einzelteile, die wir hier über die Renovierung hinweg hier aufbewahren, damit das dann weitergehen kann."

    Es sind bis zu 15 Gruppen am Tag, die sich den Turm und das Museum anschauen wollen. Mit dem neuen Museum könnten es mehr werden, glaubt Jarczewski.

    "Hier wird es einen multimedialen Raum geben, mit Monitoren, auf denen man Filme anschauen kann, mit verschiedenen visuellen Darstellungen. Hier bleibt auch Platz für eine Ausstellung.
    Der große Saal oben, wo sich die Aktion damals abgespielt hat, dient heute vor allem als Vortragsraum. Es kommen viele Gruppen hierher, aus Polen während des Schuljahrs, und viele deutsche Gruppen, das ist die Mehrheit der ausländischen Gäste."

    Einiges vom authentischen Inneren des Senders Gleiwitz geht durch die Umbaumaßnahmen verloren. Es ist nicht mehr nur der Ort des Geschehens, sondern ein moderner Raum mit modernen Präsentationsformen für eine Episode der deutsch-polnischen Geschichte, die in den Augen von Jarczewski oft unterbewertet wird.

    "Der Überfall als Ereignis hat ja kaum eine Bedeutung. Die Frage ist, was Hitler damit erreichen wollte. Die Antwort darauf hat Hitler zwei Stunden später gegeben, als im Berliner Sender das Kommuniqué verbreitet wurde."

    Verlautbarung aus Berlin: "Hier ist der Sender Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand."

    Jarczewski: "Hierher kamen die Provokateure wegen einer Verlautbarung, die in England und Frankreich zu hören sein sollte. Denn dieser Radiosender hatte zwar am Tag nur eine Reichweite von etwa 100 Kilometern, doch nachts war er in ganz Europa zu hören. Dort hätte man uns hören sollen und denken sollen: Polen hat den Krieg begonnen. Und ihr, Franzosen, bleibt schön ruhig zu Haus. Es ging Hitler darum, der französischen Regierung ein psychologisches Argument an die Hand zu geben: 'Frankreich hat mit dieser Angelegenheit nichts zu tun.' Zwar gab es einen Vertrag zwischen Frankreich und Polen, doch für welchen Fall? Für den Fall, dass Polen von Deutschland angegriffen würde, aber nicht umgekehrt. Und hier hätte die Regierung also sagen können, wissen wir nicht so genau, wer es war. Also warten wir, vielleicht kommt Herr Hitler ja selbst nach Paris und erklärt es uns. Und wie wir wissen, kam er ein halbes Jahr später tatsächlich und erklärte es so, dass man sich bis heute daran erinnert."

    Ein großer Plan, der misslang. Die Aktion vom August 1939 war vor allem dilettantisch vorbereitet. Die Deutschen, die die Provokation damals inszenierten, kamen offenbar ziemlich ahnungslos nach Gleiwitz - und überfielen prompt den falschen Sender.

    "Denn hätten sie im Jahre 1939 in Gleiwitz wen auch immer nach dem Weg gefragt, so hätten sie etwas Interessantes erfahren: Jeder Gleiwitzer hätte eine Gegenfrage gestellt: Zu welchem Sender wollen Sie denn, es gibt nämlich zwei. Das wussten sie nicht. Das ist erstaunlich. Der zweite Sender ist fünf Kilometer von hier entfernt. Die kamen her und dachten, sie fänden das alles hier vor. Aber es gab keine Mikrofone."

    Der Sender, der für den Überfall herhalten musste, war nur ein Mast, der das Programm aus Breslau weiterleitete. Lediglich für Warnungen und Programmunterbrechungen gab es ein sogenanntes Sturmmikrofon.

    "Wir haben ein Mikrofon aus den 40er-Jahren, doch es könnte genau so eins gewesen sein. Und da ist das Schaltpult, an dem man das Kabel eben richtig einstecken muss. Offenbar haben die das damals geschafft. Als sie dann endlich die Verlesung ihres Kommuniqués begannen, funktionierte nach wenigen Worten das Mikrofon nicht mehr. Wir wissen nicht, warum das so war. Nur soviel hat der Chef des Senders gehört, der nebenan wohnte. Er kam her, um zu sehen, was los ist. Es zeigte sich, dass man es in Berlin auch nicht gehört hatte. Und London hat wahrscheinlich auch nichts mitbekommen. Man kann also sagen, dass diese Provokation technisch nicht erfolgreich war."

    Nicht zuletzt deshalb wurde vom Berliner Sender aus auf Deutsch das Kommuniqué zwei Stunden nach dem Überfall am Vorabend des Krieges noch einmal komplett verlesen. Und damit stand der Vorwurf im Raum, die Polen hätten Deutschland angegriffen:

    "Polen hat heute Nacht auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen. Und von nun an wird Bombe mit Bombe vergolten."

    Jarczewski: "Hier ist der technische Schrank erhalten geblieben mit den ganzen Hebeln zur Bedienung. Es sind auch einige wesentliche Betriebsteile des Senders erhalten geblieben. Hier zum Beispiel: 'Ein' und 'Aus', das muss man ja verstehen, aber auf der Rückseite steht es noch auf Deutsch."

    Nach dem Krieg wurde der Sendemast von Gleiwitz weiterbenutzt. Noch heute ist er gespickt mit Antennen und Satellitenschüsseln. Seit 1935 steht der Mast, der wie ein kleiner Eiffelturm aussieht. Gebaut aus Lärchenholz, das jedes Jahr neu imprägniert werden muss.

    Die deutsche Minderheit in der Region steht dem Sender distanziert gegenüber. Ungeachtet seines historischen Werts habe ihn die sozialistische polnische Regierung als Propaganda-Instrument benutzt, sagt der Vorsitzende der gesellschaftlich-kulturellen Vereinigung der Deutschen in Polen, Bernhard Gaida:

    "Diese so große Bedeutung war von dieser damaligen Propaganda schon für immer etwas gestört worden. Bis 1990. Jetzt sind wir wieder so weit weg von diesen Tatsachen damals, dass das schon nie in der ganzen Gesellschaft diese Bedeutung bekommen wird. Das ist im Prinzip nie ein Thema in der deutschen Minderheit, also wir sind da auch heute die polnischen Bürger und wir nehmen Teil in der ganze gesellschaftliche Leben Polens und wir versuchen nicht, wirklich die Rolle für irgendwelche Verantwortung hier zu übernehmen."

    Für die Stadt ist der Sender ein wichtiger Ort. Jedenfalls sieht man es im Haus für deutsch-polnische Zusammenarbeit so:

    "Es soll etwas sein, was der Stadt und der Region - also das - als Bildungs- und Erkundungsort sein, für den Anfang des Zweiten Weltkriegs. Es ist schon ein Symbol für die Stadt, man sieht das auch gut, wenn man auf der Autobahn an der Stadt vorbeifährt, da wird es auch gezeigt, hier kann man zum Radiosender hinfahren."

    Eine historische Stätte, die man nicht übersehen kann, ein Ort des Andenkens soll der Sendeturm auch nach dem Umbau bleiben. Doch lässt sich ein bedeutendes regionales Museum auch überregional bekannt machen? Bisher waren entsprechende Versuche der Gleiwitzer bei der großen Politik eher auf Unverständnis gestoßen.

    Andrzej Jarczewski: "Wir haben verschiedene Regierungschefs eingeladen, zum Beispiel den Premierminister Buzek, der aus Gleiwitz stammt, aber er kam nicht. Er sagte, er würde kommen, wenn von deutscher Seite mindestens der Außenminister kommen würde. Um kein antideutsches Ereignis aus dem Besuch zu machen, sondern sagen wir mal so irgendwie etwas Modernes. Ich weiß natürlich nicht genau, weshalb deutsche Politiker nicht herkommen wollen."

    Das hiesige geschichtsträchtige Pflaster soll nach dem Willen der Gleiwitzer noch mehr Menschen bekannt werden. Man sei sich darüber im Klaren, heißt es, dass gerade das Zuviel und nicht Zuwenig an historischer Bedeutung paradoxer Weise dazu führt, dass der Ort gemieden wird. Die Erwartungen der Gemeinde sind aufgrund bisheriger Erfahrungen eher nüchtern.

    Rafal Bartek: "Es soll nicht so martyrologisch angesehen werden. Sondern mehr als ein Bildungsort für die Geschichte, so dass gerade den jungen Menschen die Geschichte des Ortes nähergebracht wird, denn das ist glaube ich die Schwierigkeit, mit der jede Bildungsinstitution zu kämpfen hat: Für die Jugend ist der Zweite Weltkrieg weit, weit her."