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Der lange Arm des großen Bruders

Auf die Parlamentswahlen in Weißrussland am kommenden Sonntag blicken viele mit ernüchterter Skepsis. Die zwei größten Oppositionsparteien haben schon im Vorfeld ihre Kandidatur zurückgezogen, weil der Ausgang der Wahl im Land Lukaschenkos als ausgemacht gilt. Lediglich Moskau kann sich entspannt zurücklehnen, ist Weißrussland doch nicht nur in finanzieller Hinsicht abhängig vom großen Bruder im Osten.

Von Sabine Adler | 19.09.2012
    Weißrussland belegt den Spitzenplatz europäischer Negativrekorde: Es ist das einzige Land, das die Todesstrafe exekutiert, wie erst im Frühjahr an zwei angeblichen Terroristen. Weißrussland hält den Rekord, was die Zahl der Landsleute betrifft, die der Heimat den Rücken gekehrt haben, jeder zehnte. In Weißrussland kann man wie im Museum die Planwirtschaft betrachten.

    "Unser Land ist erstarrt in dem postkommunistischen Stadium", sagt der frühere Präsidentschaftskandidat der Opposition Alexander Milinkewitsch. "70 Prozent der Wirtschaft ist in staatlicher Hand, es hat keine Privatisierung stattgefunden, keine marktwirtschaftlichen oder Strukturreformen, nichts. Was die Investitionen betrifft, sind wir eines der schlechtesten Länder in Europa und bekäme das Land nicht die Hilfsgelder von Russland, wäre die Wirtschaft längst zusammengebrochen."

    Alle großen russischen Geldinstitute, die Gazprom-Bank, Wneschtorg-Bank, Sperbank, Alpha-Bank würden sofort den weißrussischen Markt dominieren, wenn nicht sämtliche Staatsbetriebe ihre Finanzgeschäfte immer noch über die Weißrussische Staatliche Bank abwickeln müssten.

    Nie war die finanzielle und materielle Hilfe aus Moskau so groß wie zurzeit. Seit Jahren hält Russland die ansonsten zum Ruin verurteilte belorussische Wirtschaft am Leben. Größtenteils mit Rohöl, das zollfrei ein- und ebenso zollfrei als Raffinerieprodukte wieder nach Russland ausgeführt wird. Der Gewinn landet im weißrussischen Staatshaushalt, wo er unter anderem zur Finanzierung der ineffizienten Staatsbetriebe, der Sicherheitsorgane und Geheimdienste verwendet wird, kurz zum Machterhalt von Alexander Lukaschenko, der in Europa weitgehend isoliert dasteht. Der Wirtschaftsexperte und Oppositionspolitiker Jaroslaw Romantschuk fügt an, was noch zur russischen Wirtschaftshilfe gerechnet werden muss:

    "Dabei ist noch nicht ausgerechnet, was der staatlich garantierte Zugang zum russischen Markt für weißrussische Produkte aus den Staatsbetrieben ausmachen würde, die sonst nie eine Chance in Russland hätten. Auch die Garantien des russischen Staates für Kredite an Weißrussland muss man einbeziehen."

    Seit dem Sommer baut und finanziert Moskau ein Atomkraftwerk im Westen Weißrusslands an der litauisch-polischen Grenze, mit neuer noch nicht getesteter russischer Reaktortechnik, sehr zum Ärger in Vilnius und Warschau, wo man eigene AKW-Pläne verfolgt.
    Der Vorwurf, dass Moskau einen Diktator stützt, hat die Machthaber im Kreml noch nie gestört, die Europäische Union jedoch empört dies immer wieder aufs Neue. Der Minsker Wirtschaftsexperte Romantschuk dämpft die Aufregung, denn Länder wie Lettland, Estland, Litauen, die Niederlande würden schließlich die Hälfte aller weißrussischen Raffinerieprodukte importieren und somit die russische Hilfsmaschinerie kräftig mit in Schwung halten. 2012, im Jahr der vierten Parlamentswahlen, seit Lukaschenko vom Kolchos-Direktor zum Präsidenten aufgestiegen ist, die diesem Jahr macht die russische Hilfe ein Fünftel des Budgets aus.

    Dass Russland diese Hilfe nicht ohne Gegenleistung gewährt, slawischer Bruderbund hin oder her, das versteht sich für den Oppositionellen Alexander Milinkewitsch von selbst.

    "Russland übt auf Lukaschenko sehr großen Druck aus. Er soll die besten Betriebe, die wir haben, privatisieren. Zwei Ölraffinerien zum Beispiel, die sind moderner als in Russland. Erdölleitungen, Maschinenbaubetriebe oder das Kalidüngerwerk, das Kalisalz in großem Umfang exportiert. Und Lukaschenko soll den russischen Rubel einführen. Das wäre dann der Krach, das Ende der Unabhängigkeit. Lukaschenko will das nicht, denn er will an der Macht bleiben. Das Einzige, was ihn interessiert, ist Macht."

    Eine Million Weißrussen leben derzeit im Ausland, viele von ihnen arbeiten in Russland, wo sie niemand als Ausländer wahrnimmt. Putins Vorstellungen, den kleinen westlichen Nachbarn als Provinz an Russland anzugliedern, stößt auf wenig Widerstand in der russischen politischen Elite. Zum Entsetzen in Weißrussland.

    Wie lange Lukaschenko dem Drängen Russlands, staatliche Betriebe an russische Geschäftsleute zu verkaufen, widersteht, ist unklar.

    Dass der Minsker Autokrat das russische Geld, das ihm seit Jahren den Präsidentensessel sichert, zugleich fürchtet, gilt als ausgemacht. Nicht nur, weil die Schulden gegenüber Russland seit 2008 erfasst werden. Das weitaus schlimmere Szenario für ihn dürfte sein, dass russische Hintermänner eine in Weißrussland populäre Person mit Geld ausstatten und gegen Lukaschenko in Stellung bringen. Noch ist dies nur Traum beziehungsweise Albtraum der Opposition.