Freitag, 19. April 2024

Archiv


"Der Schrumpfungsprozess ist dramatisch"

Anlässlich des UN-Tags der Migration hat der Politikwissenschaftler Dieter Oberndörfer eine liberalere Einwanderungspolitik in Deutschland gefordert. Der schnelle Schrumpfungsprozess der deutschen Gesellschaft könne nur durch eine höhere Zuwanderung in Verbindung mit einer nachhaltigen Familienpolitik gebremst werden, sagte Oberndörfer.

Moderation: Ferdos Forudastan | 18.12.2005
    Forudastan: Es ist paradox: Seit Jahren nimmt die Zahl derer ab, die als Asyl- oder Arbeitssuchende hier her einwandern und trotzdem belegen Umfragen, dass viele Deutsche nach wie vor meinen: In Deutschland gibt es zu viele Ausländer. Erst letzte Woche haben die deutschen Innenminister Flüchtlingen, die seit langem hier leben und gut integriert sind, ein zuverlässiges Bleiberecht verwehrt. Flüchtlingsorganisationen und Menschenrechtsinitiativen kritisieren solche Entscheidungen als inhuman. Es gibt in diesem Land aber auch Einwanderungsexperten, die weiter gehen, die sagen, diese Abschottungspolitik ist nicht nur inhuman, sie ist dumm! Zu diesen Experten gehört Dieter Oberndörfer, emeritierter Politikprofessor an der Universität Freiburg, stellvertretender Vorsitzender des Rates für Migration, Berater der Konrad Adenauer Stiftung und selber Mitglied der CDU. Heute ist der UN-Tag der Migration und da wollte ich von Dieter Oberndörfer wissen: Was ist dumm an den strikten Regeln gegen Zuwanderung?

    Oberndörfer: Es ist dumm im Hinblick auf unsere demographische Entwicklung. Es werden zu wenig Kinder geboren, seit Jahrzehnten, die deutsche Bevölkerung schrumpft und altert. Wenn das so weiter geht, werden in 50 Jahren ohne Zuwanderung 20 Millionen Menschen weniger in Deutschland leben. Das durchschnittliche Alter wird über 50 liegen, es gibt also weit weniger Menschen unter 50 als über 50. Das sind alles dramatische Entwicklungen, die könnte man zwar nicht durch Zuwanderung aufhalten, aber man könnte das zumindest abfedern, so dass durch vernünftige Familienpolitik allmählich doch wieder ein Gleichgewicht in die demographische Entwicklung kommt.

    Forudastan: Lassen Sie uns noch einmal bei diesem Szenario bleiben, das für Sie ein Schreckenszenario ist: In 50 Jahren leben 20 Millionen Menschen weniger in Deutschland. Was bedeutet das konkret für dieses Land?
    Oberndörfer: Also zunächst einmal - an sich wäre es ja nicht schlimm, wenn in Deutschland weniger Menschen leben als bisher. Im 19. Jahrhundert haben in etwa nur halb so viele Menschen hier gelebt. Aber das eigentlich dramatische an dieser Entwicklung ist der schnelle Schrumpfungsprozess. Das heißt, man könnte sich auf eine langsame Schrumpfung einstellen, eine langsame Verringerung der Bevölkerung. Aber wenn praktisch der Binnenmarkt zusammenbricht, der Immobilienmarkt, dann wird es dramatisch. Und das andere ist die Struktur der Bevölkerung, die entsteht, das heißt, dass mehr alte Menschen als junge Menschen leben. Das ist die eigentliche Dramatik und das hat gravierendste Auswirkungen etwa auf die sozialen Sicherungssysteme, die Renten, die nicht mehr bezahlt werden können, weil eben nur noch wenige junge Menschen für die älteren arbeiten. Die Gesundheitsversorgung, die immer teuerer wird, jetzt auch im Zusammenhang mit der Steigerung der Lebenserwartung. Also irgendwas muss geschehen. Ein Mittel dazu, diese Entwicklung aufzuhalten, bis man eine Lösung findet, das ist Zuwanderung, sonst sehe ich keine.

    Forudastan: Mit Lösung oder einer grundsätzlichen, langfristigen Lösung meinen Sie die Familienpolitik - kurzfristig soll die Migration helfen. Was bedeutet das denn in Zahlen ausgedrückt? Wie viele Menschen müssten jährlich über die, die jetzt schon kommen, hinaus kommen, um dieses Problem etwas zu verringern?

    Oberndörfer: Also man muss natürlich die politische Dimension auch sehen - im Zeichen der Arbeitslosigkeit - die wir haben, die aber kein Fatum ist wie andere Industrieländer zeigen, muss man auch die politische Umwelt berücksichtigen. Also, wir können im Moment nicht die Zuwanderung politisch verkraften, die vielleicht demographisch notwendig wäre. Aber wir haben schon jetzt - das wird immer wieder verschwiegen - einen gespaltenen Arbeitsmarkt, das heißt, wir können aus arbeitslosen Bergarbeitern oder Arbeitern im Schiffbau keine Ingenieure machen, keine Maschinenbauer und da besteht der Bedarf. Also wir haben eine Reihe von Wirtschaftsbereichen, in denen nicht genügend deutsche Arbeitskräfte verfügbar sind für den Arbeitsmarkt, um unsere Wirtschaft am Laufen zu halten. Und hier bedarf es schon jetzt, trotz hoher Arbeitslosigkeit, der Zuwanderung.

    Forudastan: Aber noch mal zu der Frage: Wie viel Zuwanderung müsste sein, auch wenn man mitbedenkt, dass nicht so viele kommen können, wie es eigentlich notwendig wäre, weil man sich immer die politischen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dazu denken muss?

    Oberndörfer: Es gibt ja interessante Vorausberechnungen des statistischen Bundesamtes. Dort geht die Statistik stillschweigend davon aus, dass es jährlich etwa 200.000 bis 225.000 Nettozuwanderer geben wird. Nettozuwanderer, also wenn man die Abwanderung mit in Betracht zieht. Derzeit gibt es aber etwa nur 80.000 Nettozuwanderer nach Deutschland. Das heißt, die amtliche Statistik unterschlägt gewissermaßen - das findet sich natürlich in den Fußnoten bemerkt - unterschlägt die Dramatik der Entwicklung. Wir haben keine gesetzliche Möglichkeit im Augenblick, um diese Öffnung für eine Nettozuwanderung von 200.000 im Jahr zu erreichen. Das Zuwanderungsbegrenzungsgesetz, wie es amtlich heißt, hat ja den Anwerbestopp nicht aufgehoben. Also es sind letztes Jahr nach meiner Information etwa 900 Migranten nach Deutschland gekommen, weil sie Geld hatten, also Investoren waren, oder besonders ausgezeichnete Wissenschaftler. Das sind 900 bei einem 82-Millionenvolk, das ist ein schlechter Witz.

    Forudastan: Nun plädieren Sie ja aus zwei Gründen dafür, dass wir die Zahl der Migranten deutlich erhöhen. Der eine ist, dass Sie sagen, die Bevölkerung schrumpft und altert viel zu schnell. Nun lehrt ja aber die Erfahrung, dass Migranten, die einwandern, nach kurzer Zeit im Grunde eine ähnliche Familienplanung entwickeln, wie die einheimische Bevölkerung, das heißt, dass sie genauso viele oder im Fall von Deutschland, genauso wenige Kinder bekommen, wie die Deutschen.

    Oberndörfer: Ja, das ist natürlich das Problem und deswegen sind die Zuwanderer, die sich tatsächlich so verhalten wie die Einheimischen, also was die Zahl ihrer Kinder betrifft, kein Heilmittel auf Dauer. Aber jedenfalls können sie uns kurzfristig helfen, und wir brauchen kurzfristig eine Hilfe, denn ohne Zuwanderung wird das Ganze dramatisch werden. Das zeigen alle statistischen Berechnungen, die davon ausgehen, dass keine Zuwanderung in dem Umfang stattfindet, wie es jetzt vom statischen Bundesamt erwartet wird, 200.000. Aber natürlich bedarf es dann flankierend dazu einer nachhaltigen Familienpolitik. Dazu gehört zum Beispiel auch eine drastische Unterstützung der allein erziehenden Mütter, die in Deutschland katastrophal benachteiligt werden im Unterschied zu Frankreich und der Familienpolitik in Frankreich. Also hier muss auf allen Kanälen ganz neu nachgedacht werden, innovativ und muss vor allem die Vereinbarkeit von Beruf und Arbeit für Frauen möglich werden. Das ist heute in vielen Fällen nicht möglich, so dass die Frauen vor der Alternative stehen, ihren Beruf aufzugeben, nicht mehr in den Arbeitsmarkt zurückfinden und Kinder zu bekommen. Also diese Entwicklung in Deutschland ist unheilvoll. Ich darf noch erwähnen, in Frankreich, im Rahmen der französischen Familienpolitik, hat inzwischen dort ein Drei-Kinder-System gegriffen. Die Kinderzahl in Frankreich nimmt zu.

    Forudastan: Herr Oberndörfer, der andere Grund, weshalb Sie für wesentlich mehr Migration, als sie jetzt stattfindet, plädieren, ist der Fachkräftemangel in Deutschland. Sie sprachen vorhin von Ingenieuren, von denen wir nicht genügend haben. Nun halten Ihnen andere Wissenschaftler, aber auch Politiker entgegen, besonders freundlich gegenüber den Ländern, aus denen diese Leute kommen sollen, ist das nicht, denn da werden dann ja qualifizierte Arbeitskräfte abgezogen.

    Oberndörfer: Ja, das ist ein Argument, das so genannte Braindrain, also Abzug von Intelligenz. Das wird seit 30 Jahren sehr differenziert diskutiert. Es stimmt so nicht. Es gibt Länder mit einem großen Überschuss an ausgebildeten Leuten, die zu Hause keine Arbeit finden. Dann gibt es Länder mit widerwärtigen politischen Systemen, aus denen Menschen auswandern wollen. Und wir vergessen immer wieder, was Honecker in Deutschland gemacht hat: Er hat gesagt, "Ihr habt gefälligst hier zu bleiben". Also Auswanderung ist ein Menschenrecht. Wenn Menschen aus widrigen ökonomischen und politischen Verhältnissen auswandern wollen, dann dürfen wir nicht paternalistisch sagen, "Bleibt gefälligst dort, wo ihr seid". Das war Honeckers Argument. Und dann widerspricht auch die internationale Statistik über die Folgen von Auswanderung - dies wird Blockadepolitik..., also man hat jetzt ausgerechnet, dass etwa aus den Rücküberweisungen von Auswanderern wesentlich mehr Geld in die Entwicklungsländer zurückfließt als aus der amtlichen Entwicklungshilfe. Also das ist ganz beachtlich, was etwa zum Beispiel in Europa die spanischen und italienischen Gastarbeiter in ihre Länder zurücküberwiesen haben, als Spanien und Italien noch vor dem großen Sprung nach vorne standen. Also, der wirtschaftliche Aufbau in Südeuropa ist im Wesentlichen oder zum guten Teil durch Rücküberweisungen von Migranten finanziert worden. Das wird immer wieder vergessen. Also es gibt hier sehr positive Wirkungen.

    Forudastan: Nun beschweren sich ja viele Deutsche schon heute darüber, dass es zu viele Ausländer gibt, dass in den Schulklassen ihrer Kinder mehr Türken als Deutsche sitzen oder dass sie sich vom Anblick von Moscheen in ihrer Nachbarschaft oder zu vielen Kopftuch tragenden Frauen gestört fühlen. Würde dieser Unmut und die daraus resultierenden sozialen Konflikte bei wesentlich mehr Immigration nicht noch zunehmen?

    Oberndörfer: Ich glaube nicht, sondern es gibt so etwas wie den Gewöhnungseffekt. Zuwanderung - merkwürdiger Weise ist ja die Einstellung in Gebieten mit hohem Ausländeranteil, also in Großstädten, mit halbwegs guter wirtschaftlicher Entwicklung, ist die Einstellung gegenüber Ausländern sehr viel positiver, als in Gegenden mit sehr wenigen Ausländern. Es gibt hier einen Gewöhnungseffekt. Dann kommt aber in Deutschland noch ein Sonderproblem hinzu: Wir haben hier eine Tradition, die der homogenen Gesellschaft. Also man muss sich eben auf die Einwanderung einstellen, auf gesellschaftlichen Pluralismus. Das ist in den großen Einwanderungsländern gelungen. Dort stört man sich nicht, wenn Menschen anderer Hautfarbe mit einem leben, in derselben Gemeinde. Bei uns ist es alles noch sehr fremdenfeindlich eingefärbt. Und wie gesagt, ich glaube, dass das durch Gewöhnung abgebaut werden kann, aber dann kommt es natürlich auch auf die Politik an. Die Politik muss einmal herausstellen, was wir durch Zuwanderung gewinnen können. Da gibt es viele Beispiele aus der Geschichte der Einwanderung, aus der Geschichte der Einwanderungsländer. Aber bei uns macht man sich immer nur im Negativen fest und sieht nicht, um nur ein Beispiel zu geben, dass die deutsche Wirtschaft nach dem Mauerbau ohne die Leistungen der Gastarbeiter, von denen allerdings die meisten dann zurückgingen, nicht mehr gedeihen hätte können.

    Forudastan: Das war ein Gespräch mit Dieter Oberndörfer. Er ist emeritierter Professor an der Universität Freiburg und stellvertretender Vorsitzender des Rates für Migration.