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Der Sprache auf den Zahn fühlen

In einer neuen DVD-Edition gibt es einige Poetikvorlesungen des österreichischen Lyrikers und Dramatikers Ernst Jandl als Film. Kameraführung und Schnitttechnik folgen zwar dem Schulfernsehstandard, die visuelle Vorführung von Poetik ist aber ein Gewinn.

Von Florian Felix Weyh |
    "Das Reden ist vollständig eine Sache der außerpoetischen Realität. Das Reden besteht aus Sprache und Körper, unserem Körper, seinem Kopf zuvörderst, doch auch den anderen Extremitäten. "Er redet mit den Händen", heißt ja nicht mit den Händen allein. Es ist ganz eine Sache der außerpoetischen Realität."

    ... doziert der Herr mit dem Kurzhaarschnitt und der großen Gelehrtenbrille vor ausverkauftem Publikum im Hörsaal VI der Frankfurter Alma Mater. Es ist Wissenschaft, ganz klar, die an solchem Ort verhandelt wird, die Wissenschaft vom Sprechen und Sagen ... und so klingt es auch:

    Dass hier etwaiger Unernst, gar Unfug vorläge, wird natürlich kein heutiger Zuhörer mehr vermuten. Man kennt die Stimme – Ernst Jandl –, man kennt den Duktus, und Jandl-Aufzeichnungen sind ein legendärer, bei aller poetischen Kunstfertigkeit sehr vergnüglicher Teil der künstlerischen Moderne. 1984 jedoch – dem Jahr, in dem wir Ernst Jandls Erläuterungen seiner Arbeit lauschen und ihn dabei betrachten können, bestand vordergründig noch Aufklärungsbedarf. Und der kommt ganz professoral daher:

    "Bäbbbäb", die Verdoppelung mit dem Akzent vorn, erscheint so: B – Umlaut A B B B Umlaut A B. Die Umkehrung "Bäbbbäb" einfach umgekehrt. Die Verdreifachung mit dem Akzent hinten erscheint so: B – Umlaut A B – Umlaut A B – Umlaut A B B B!"

    Aber eben nur vordergründig: Selbsterklärungen muss der Redner eigentlich nicht mehr liefern, schließlich ist er jener Mann, nach dem schon 1984 der Duden gut und gerne ein Verb hätte benennen können: jandeln. Im Sinne von "der Sprache auf den Zahn fühlen":

    Das ergibt zunächst einmal treffliches Material für ein Hörbuch. Vor uns aber liegen – als Teil der Suhrkamp-Filmedition – zwei DVD, also visuelle Medienprodukte. Der Frankfurter Hörsaal ist karg, die Bekleidung des Publikums zeittypisch - wir erinnern uns, 1984 strickte man in Vorlesungen gerne-, und Branchenarchäologen mögen entzückt feststellen, dass schon damals in der ersten Reihe Siegfried Unseld nicht mehr neben seinem Sohne Joachim saß, sondern ein paar Stühle entfernt. Doch rechtfertigt das den Herstellungsaufwand einer DVD? Nein! Der Grund für den gesteigerten Materialeinsatz liegt im visuellen Mehrwert von Jandls Vortragsweise. Dies deutet sich schon im Vorlesungstitel "Das Öffnen und Schließen des Mundes" an:

    "Das Gedicht sagt etwas. Und es stellt es zugleich hörbar und sichtbar dar. Es bedarf also eines hörbaren und sichtbaren Sprechers. Und es bedarf eines Publikums. Auf Videoband bekommt jeder es ebenfalls komplett. Auf Schallplatte nur noch einen Teil davon. Noch viel weniger auf der Buchseite, dafür aber die unerlässliche Sprechanweisung als Fußnote für die vier Phasen: Offen – weiter offen – sehr weit offen – zu. Es ist ein Sprechgedicht mit einem bedeutungsvollen mimischen Aspekt."

    Jandls Mundbewegungen zu verfolgen und nicht nur seine Stimmschwingungen zu hören, ist durchaus ein Gewinn, zumal die visuellen Komponenten in der ersten von fünf Vorlesungen zum pädagogischen Basisprogramm gehören:

    "Was Sie bisher gelernt haben, ist wenigstens dies: Ein geschlossener Mund – mmmmmm – bedeutet noch nicht Stille, der Nase sei Dank! Erst wenn ich diese ebenfalls schließe, wozu sie selbst nicht die Macht hat, erstirbt jeder Laut: mh!"

    "An Jandl zeigt sich, was ein Talking Head vermag, wenn man ihn lässt", tönt die hochgelehrte Begleitbroschüre von Johannes Ullmaier, deren akademischer Interpretationswille die Eigeninterpretationen Jandls weit übertrifft. Dennoch sei nicht verschwiegen, dass jenseits der ersten Vorlesung im Bild wenig passiert. Kameraführung und Schnitttechnik folgen dem Schulfernsehstandard von 1984 und sind, gelinde gesagt, von einschläfernder Wirkung ... wäre da nicht die akustische Ebene des Seh-Marathons, das aufregende Klangpotenzial Jandls. Wenn er die eigenen Lyrik Laut um Laut seziert, über "heruntergekommene Sprache" philosophiert, wenn er Brecht zitiert oder vom Sprechen in den Gesang fällt, sperrt man die Ohren auf, selbst wenn die Augen längst zugefallen sind.

    Ein Gedicht, so erzählt Jandl seinem Publikum, schnappte er einst in der Wiener Straßenbahn als Gesprächsfetzen auf. Diesem Fährtensucher des Poetischen in der "außerpoetischen Realität" hätte wohl sicher auch gefallen, was auf der an die spartanische "edition suhrkamp" erinnernden, orangenen DVD-Verpackung prangt: ein grotesk hässlicher, weißer Fleck mit dem Jugendschutz-Freigabe-Emblem. Damit ein jeder weiß: Jandl macht vieles, nur keine Sauereien! So ist es eben mit der "außerpoetischen Realität", zumal der gesetzlich verfügten: Sie treibt gern skurrile Blüten. Zum Ende der dritten Vorlesung schickt Ernst Jandl seine Zuhörer denn auch mit einer klaren Formel in genau diese unlyrische Realität hinaus:

    "Dankend für das Ohr, das Sie mir geliehen haben, gebe ich Ihnen ein Stück außerpoetischer Realität mit auf den Weg, wohin immer er Sie führt. Sie haben es alle immer schon bei sich gehabt, und Sie bekommen es alle jetzt noch einmal von mir, versehen mit einem Titel, der diesem kleinen Stück Wirklichkeit die Erhabenheit von Poesie verleiht. Spruch mit kurzem O: "So!"

    Ernst Jandl: "Das Öffnen und Schließen des Mundes", Frankfurter Poetikvorlesungen 1984/1985, 2 DVD, Suhrkamp Verlag, 263 Minuten