Damit ist es im heutigen Rußland längst vorbei. Doch Brodsky scherte sich eh nicht um das, was nach seiner Vertreibung dort geschah. Er wußte, er wurde nie zurückkehren, was er in diesem neuen Essay-Band mehrfach bekräftigt. Sein Exil war definitiv. Er betrachtete sich als einen "Sänger des Zerfalls", was auch impliziert, daß er retrospektiv lebt. "Ein Exilschriftsteller zu sein", so beschreibt er diesen Zustand, "das ist, als wäre man in einer Kapsel in den Weltraum geschossen (...). Und diese Kapsel ist die eigene Sprache. (...) Der Blick zurück spielt in seinem Dasein eine (...) übermäßige Rolle." Nicht nur in seinem Dasein, sollte man hinzufügen, sondern auch und vor allem in seiner Kreativität. Denn Sprache beweist ihre Kraft ja nicht erst im Akt des Schreibens, sondern bereits in dem der Wahrnehmung.
Soll das nun heißen, in den Essays dieses Bandes, die sich mit Fragen der Poetologie befassen - und das tun neben der berühmten Nobelpreis-Rede viele - gehe es vorwiegend um ausufernde ästhetische Konfessionen? Nein, ganz und gar nicht, Brodsky ist kein esoterischer Prediger, parliert vielmehr geistreich und elegant wie ein Liebhaber , der die Vorzüge seiner Geliebten preist. Dabei hält er sich stets an konkrete Beispiele und macht auch die Bruchstellen kenntlich, die zwischen Anspruch und Wirklichkeit klaffen.
Das alles liest man mit Entzücken und ärgert sich zwischendrein, daß dieser Band auch manches Belanglose enthält: Reden zu Abschiedsfeiern von College-Studenten und ein paar autobiographische Remineszenzen, die - mit Verlaub - etwas onkelhaft wirken, Gelegenheitsarbeiten eines Causeurs ohne Witz und Ironie. Das gilt auch für die umfangreiche Story über einen sowjetischen Spion, mag sie ihm als Opfer des kommunistischen Imperiums auch Ekel verursachen -, dem Leser kann Brodsky die Brisanz dieses Spionagefalls nicht vermitteln.
Aber dann zwei Highlights, die wiederum zeigen, was für ein brillanter Denkkünstler Brodsky war. Da räsonniert er über den "Umriß Klios" - so der Titel dieses Essays, in dem er die Muse der Geschichte eindrücklich personalisiert und darlegt, wie sehr ihr Unrecht geschah durch den "historischen Determinismus", dessen Wurzeln er bereits im Christentum entdeckt. Die schlimmsten Auswüchse dieser teleologischen und zugleich linearen Geschichtsinterpretation jedoch sind dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus anzukreiden. Daran ist für ihn nicht zu rütteln.
Das Glanzstück des gesamten Bandes ist die "Hommage an Marc Aurel", an jenen Melancholiker auf dem Cäsarenthron, den die Nachwelt vor allem als Philosophen verehrt. "Philosophie war für ihn" - so heißt es einmal - "die Textur des Daseins, nicht bloß ein geistiges Streben". Die Konturen dieser geistigen Existenz weiß Brodsky ebenso suggestiv zu vermitteln wie seine eigene Beziehung zu dem antiken Herrscher. Indem er sich Marc Aurels berühmtem Denkmal in Rom nähert, betritt er einen der markantesten Plätze "auf der Landkarte der Menschheitsgeschichte". So werden wir den Essayisten Joseph Brodsky im Gedächtnis behalten: als einen, der sich die einzelnen Kulminationen der abendländischen Kultur souverän und individualistisch einverleibt hat.