Dienstag, 14. Mai 2024

Archiv


Der Tote mit meinem Namen

Jorge Semprún hat seine Bücher über das KZ dem Tod abgerungen. Schreibend kehrt der in Paris lebende Spanier immer wieder zur Grenzerfahrung des Lagers zurück. Sie wurde für ihn zur "Urszene", deren Schatten bis in die Gegenwart reichen. Semprún ist seither - über Grenzen, Politik und Ämter hinweg - vor allem ein ehemaliger Buchenwaldhäftling geblieben. Obwohl sein wechselhaftes Leben eher dem eines Romanhelden gleicht.

Evita Bauer | 27.08.2002
    "Der", sagte die Mutter über den 1923 geborenen Jorge, "wird entweder Politiker oder Schriftsteller". Semprún wurde beides. Er war bei der Resistance, im Untergrund der spanischen KP und Minister unter Felipe Gonzalez. Geblieben ist der Schriftsteller. Zeit seines Lebens ist Semprún Grenzgänger zwischen den Kulturen - ein Weltbürger, dessen Heimat die Sprache ist. Er schreibt vorwiegend französisch, aber auch spanisch - wie jetzt seinen neuesten Roman über eine Familie während des spanischen Bürgerkrieg. Geschult an Heidegger, Hegel und Husserl sowie dank der Schweizer Gouvernanten aus Kindertagen denkt er gerne auf deutsch nach. Dennoch sitzt Jorge Semprún als Intellektueller weder auf dem hohen Ross noch im Elfenbeinturm.

    Obwohl ich als Minister drei Jahre lang nichts geschrieben habe, bin ich daran nicht eingegangen. Dabei ist das eine verdammt lange Zeit. Aber ich gehöre nicht zu denen, die gleich meinen zu sterben, wenn sie nicht jeden Vormittag drei Stunden am Schreibtisch sitzen. Nein, nein. Wenn ich während dieser drei Stunden, in denen ich nicht schreibe, etwas sinnvolles, interessantes tue, bin ich zufrieden. Allerdings muß ich immer wieder, in bestimmten Abständen über meine Erfahrung schreiben, damit sie wirklich existent ist. Was ich nicht geschrieben habe, ist als hätte ich es nicht erlebt. Schreiben ist für mich sowohl Widerhall des Bewußtseins als auch Widerhall der Existenz. Deshalb ist das Geschriebene realer als die tatsächliche Erfahrung.

    Der heute 79Jährige stammt aus einer kinderreichen Familie des liberalen Madrider Großbürgertums. Bei den Semprúns verkehrten Intellektuelle und Politiker der spanischen Republik - für die sich vor allem die Mutter und der Onkel Miguel Maura, späterer Innenminister, engagierten. Politik und Poesie - die Leidenschart des Vaters - bestimmten Semprúns Kindheit. Der frühe Tod der Mutter und das Exil nach Francos Sieg setzten zwar dem sorglosen Leben ein jähes Ende, weckten aber den unbeugsamen Widerstandsgeist von Jorge Semprún. In Frankreich schloß er sich bald der Resistance an. 1942 trat er der spanischen KP bei. Kaum Zwanzig wurde er von der Gestapo verhaftet und nach Buchenwald deportiert.

    Mehr als ein halbes Jahrhundert später stellt er sich nun in "Der Tote mit meinem Namen" erneut dem KZ. Dabei ist Semprún ein unbequemer Zeitzeuge, der sich dem "Geschäft des Gedenkens" widersetzt. Frei von Schuldzuweisungen, zwanghaftem Erinnern und den Stereotypen des Grauens untersucht er in seinem vierten Buch über Buchenwald das menschliche Verhalten in einer Extremsituation.

    Dieses Buch geht vielleicht ein wenig - ich würde nicht sagen weiter, denn das spielt hier keine Rolle - über die bisherigen hinaus. Ich betrachte die Erfahrung des Lagers hier tiefgehender, von einem mehr existentiellen und individuellen Standpunkt aus: die Beziehung zum Tod, zu den anderen, die Erfahrung von Kälte und Leid, die verschiedenen Gesichter des alltäglichen Schreckens... denn das Entsetzliche muss nicht spektakulär sein, es kann minimal sein. Dieses viel engere Verhältnis zum Erlebten ist in diesem Buch deutlicher, offenkundiger als in den vorherigen. Denn es geht nicht darum, die Erfahrung Buchenwald in seiner Ganzheit zu erfassen, sondern sie vielmehr bis ins Letzte zu ergründen - denn es ist die Erfahrung des Todes. Auch wenn es der Tod eines anderen war, so nahm er doch die Möglichkeit des eigenen Todes vorweg.

    Die vielfach verschränkten Zeitblenden und philosophischen Exkurse fügen sich zu Momentaufnahmen der Erinnerung. Doch anders als in seinen letzten Büchern über das KZ verzichtet Semprún diesmal auf Perspektivenwechsel und literarische Doppelgänger. Statt der Distanz zum Ich tritt die Erfahrung des Wir angesichts des Todes in den Vordergrund.

    Mit der ihm eigenen Technik des assoziativen Erinnerns führt Jorge Semprún zurück zu einem jungen Franzosen in der Sterbebaracke von Buchenwald. Frei von Pathos, doch ohne in den Ton eines klinischen Berichts zu verfallen, nähert sich der Autor dem Sterbenden. Einen Tag und eine Nacht lang hing von ihm Semprúns Leben ab. Der Namenstausch mit dem Toten sollte ihn vor der Exekution retten. Dieses hautnah erlebte Sterben eines anderen wurde für Semprún zur existentiellen Erfahrung.

    Dennoch entseht wie beiläufig im Rückblick auf diese Stunden auch ein minuziöses Mosaik des Lebens im Lager - das Enge, Verlust von Intimität, Hunger und Erschöpfung bestimmten. Doch inmitten des Tragischen gab es auch Momente von Humor. Mutig setzt Semprún diese gegen das Sterben und den Schrecken

    Ich habe den Eindruck, daß die meisten Zeugnisse die komischen Augenblicke verdrängen und das Dramatische, das Entsetzen hervorheben. Das ist keine Kritik, sondern verständlich, denn im Ganzen betrachtet ist es eine dramatische Erfahrung. Aber so wie sich innerhalb der Zwangsarbeit eine richtige Gesellschaft herausbildete, mit den verschiedensten Typen darunter, gab es auch komische Momente - Situationen, die subjektiv zum Lachen waren, nicht wahr? Ich erlebte so eine Situation gleich am Tag meiner Ankunft in Buchenwald. Nach der sogenannten Desinfektion, wir waren Hunderte von nackten Männern, (...) höre ich plötzlich neben mir eine Stimme, die auf französisch sagt:" Mais qu' est ce que nous arrive , Monsieur le Ministre?" Und eine andere Stimme antwortet: "Monsieur le Senateur..." In dieser erbärmlichen Lage redeten sich zwei alte, elende, nackte Männer immer noch mit Minister und Senator an - wie im Leben aus dem sie eben herausgerissen hatte. Natürlich war das tragisch, aber auch komisch. - Humor und Ironie gehören einfach zum Leben. Und es hilft sehr, über Tragisches auch lachen zu können. Es nützt dem Überleben und Durchhalten mehr als große Worte und die Rhetorik des Leids.

    Konsequent verweigert der Schriftsteller Semprún beides. Er will kein Erschauern angesichts des Grauens, sondern Verständnis wecken. Unsentimental blickt er deshalb auf den Kampf ums Überleben zurück und untersucht dabei sowohl eigene als auch fremde Strategien.

    Semprún fand in Buchenwald zu seinen spanischen Wurzeln zurück. Hier im tiefsten Exil, wie er sagt, begegnete er einer kleinen Gruppe spanischer Deportierter und Widerstandskämpfer, die ihn aufnahm und wo er seine Muttersprache zurückgewann. Lorcas Gedichte aus Kindertagen halfen ihm, kleine, poetische Darbietungen zu inszenieren. Ohne das Lager wäre Semprún heute kein zweisprachiger sondern nur ein französischer Schriftsteller. Als deutschsprechender Rotspanier wurde er im KZ direkt neben der Lagerbibliothek in der "Arbeitsstatistik" eingesetzt. Das gab ihm Gelegenheit zur Lektüre Hegels und Faulkners. Bereits bei seinen früheren Büchern empörte dies manche nur auf Schrecken und Leid fixierte Leser. Doch wo das Essen kaum zum Leben reichte, stärkte die Lagerbibliothek wenigstens den Geist. Besonders eindringlich erinnert Semprún im Buch an die in Kraft und Willen Gebrochenen. Die "Muselmänner" - wie die Todgeweihten im Lagerjargon hießen, konnte man an ihrem erloschenen Blick erkennen.

    Gerade weil die Muselmänner unser Spiegel waren, weil sie vorwegnahmen, was uns selbst jederzeit wiederfahren konnte, erfüllte ihr Anblick die deutschen KZ Veteranen mit Grauen. Die Muselmänner verkörperten für sie die allgegenwärtige Gefahr des Scheiterns im Widerstand gegen die Nazis. Merkwürdigerweise schreckte auch die SS vor ihnen zurück - obwohl das Schauspiel, das sie boten, doch ihren Sadismus hätte befriedigen müssen. Aus diesen Gründen waren die Gemeinschaftslatrinen des "Kleinen Lagers" ein Ort der Freiheit. Sowohl Kapos als auch SS blieben ihm fern. Hier waren wir Deportierten unter uns und teilten miteinander Hoffnung, Tabak, Gespräche und manchmal sogar etwas Philosophie.

    Jorge Semprún trieb das Interesse für die anderen in die Gemeinschaftslatrinen des "kleinen Lagers". Hier begegnete er auch dem jungen Franzosen, der ihm seinen Namen leihen sollte. Vergebens seine Versuche, den Lebenswillen des Dahinsiechenden durch die gemeinsame Liebe zur Literatur noch einmal zu wecken. Für den jungen Semprún hingegen wurden die Latrinen Buchenwalds zum "Cour de Miracles" - zu Rimbauds "Waschhaus der Krieger und Krüppel", zum stinkenden "Bad des Volkes", Bazar aller Tauschgeschäfte. Hier erfuhr er die "aufwühlende und wärmende Unordnung des Todes", der allen beschieden war: das Miteinander im Tod.

    Der Tote mit meinem Namen geht über das Erinnern an den Lageralltag hinaus. Semprún stößt an den Grenzen der Erfahrung und zeigt im Historischen die condition humaine. Ungebrochen in seiner Neugier gegenüber dem Leben, ist dies besonders ein Buch für junge Leser - denen es auch gewidmet ist. Für sie hat Jorge Semprún erneut die Vergangenheit aufleben lassen.