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Der Traum von Europa ist noch nicht ausgeträumt

Mali gehört heute zu den ärmsten Staaten der Welt. Deshalb versuchen viele Malier um jeden Preis, dorthin zu gelangen, wo die Touristen herkommen: Nach Europa. Manche schaffen es, doch die Mehrheit muss irgendwann zurück, weil sie an Ausländergesetzen oder auch schon an den Grenzzäunen scheitert. Bettina Rühl hat einen unfreiwilligen Rückkehrer in der malischen Hauptstadt Bamako getroffen.

Von Bettina Rühl | 14.01.2006
    Während über den Häusern von Bamako das letzte Sonnenlicht schwindet, macht sich Aboubacar Traorés Familie für den Abend bereit: Einige Männer vollziehen die rituellen Waschungen vor dem Abendgebet. Andere Familienmitglieder tragen den Fernseher und einige Plastikstühle nach draußen, und eine von Aboubacars Schwestern legt letzte Hand an das Abendessen; in den Töpfen köcheln Reis und Soße.

    Aboubacars jüngste Schwester, die dreijährige Fatma, turnt plaudernd auf ihrem großen, 25-jährigen Bruder herum, als seien die beiden bestens miteinander vertraut. Dabei kennt Fatma ihren Bruder bisher kaum: Nach zwei Jahren in der Fremde ist Aboubacar erst seit einigen Wochen wieder zu Hause - und gescheitert mit seinem Versuch, nach Europa zu kommen. Aboubacars Mutter Kemba Traoré hatte die Hoffnung auf ein Widersehen mit ihrem Sohn bereits aufgeben.

    "Bevor Aboubacar gegangen ist, hat er uns nichts gesagt. Nachdem er weg war, haben wir ihn hier drei Tage lang überall gesucht. Wir hatten keine Ahnung, wo er ist. Erst als er zurückkam ist, erfuhren wir, wo er gewesen war."

    Aboubacar: "Wenn ich mit meiner Familie über meine Entscheidung gesprochen hätte, hätten sie mich niemals gehen lassen. Meine Eltern wissen ja, welche Risiken man eingeht, wenn man auf dem Landweg nach Europa will. Jeder hier kennt die Gefahren, denn darüber wird im Fernsehen berichtet. Aber wenn man wirklich weg möchte, dann lässt man sich von solchen Warnungen nicht abhalten. Also habe ich mich auf den Weg nach Europa gemacht, ohne meiner Familie etwas davon zu sagen."
    Das war vor gut zwei Jahren. Vorher hatte Aboubacar einige Jahre lang versucht, sein Glück in Afrika zu machen. Doch das gelang ihm nicht: Weder schaffte er es, sich in seinem Beruf als Seifenmacher selbstständig zu machen, noch fand er andere Arbeit.

    Aboubacar: "Ich lebe in einer großen Familie, mein Vater hat zwei Frauen. Die Kinder der zweiten Frau meines Vaters haben Arbeit - sie sind es, die die Familie ernähren. Ich saß damals nur zu Hause herum und musste zusehen, wie sich die Söhne der Zweitfrau meines Vaters damit abmühten, uns alle zu ernähren. Sie bezahlten für alles: Den Reise, das Gemüse, die Gewürze für die Soße. Es quälte mich, dass ich nichts zum Unterhalt beitragen konnte. Ich fühlte mich in meiner Familie nicht mehr wohl."

    Deshalb machte er sich schließlich auf den Weg nach Europa. Zwei Jahre lang versuchte er, sein Ziel zu erreichen. In dieser Zeit geriet er mehrfach in Lebensgefahr: In der Wüste wurde er ausgeraubt, später zerschellte das Boot, mit dem er das Meer überqueren wollte. Trotzdem dachte er nie daran, seine Versuche abzubrechen und nach Hause zu gehen.

    Aboubacar: "Ich wusste ja von Anfang an, worauf ich mich einlasse, und dass ich auf dem Weg in wirklich gefährliche Situationen geraten kann. Aber ich glaube an Gott und daran, dass das, was mir widerfährt, das Richtige ist. Und außerdem habe ich mir gesagt: Ich bin ein Mann, ich muss kämpfen, um das zu erreichen, was ich will. Ich wusste, dass es Leute gibt, die auf dem Weg ihre Leben verlieren oder schwer verletzt werden - aber ich habe Glück gehabt, ich bin gesund und unversehrt geblieben. Natürlich hätten mich meine ganzen Erlebnisse auch entmutigen können, aber ich habe meinen Glauben an Gott nicht verloren."

    Statt aufzugeben, verdingte sich Aboubacar zwischendurch immer wieder als Tagelöhner, um das Geld für die teure Reise zu verdienen - insgesamt investierte er mehrere hundert Euro in den Versuch, nach Europa zu kommen. Dann ging er nach Melilla: Die spanische Exklave ist nur durch einen meterhohen Zaun von Afrika getrennt. Sieben Monate lang wartete er auf seine Chance, schlief unter freiem Himmel und aß, was er in Abfalleimern fand. Dann, im Herbst 2005, stürmte er mit hunderten anderer Afrikaner den Zaun von Melilla - und wurde dann, statt auf das europäische Festland zu kommen, nur nach Marokko abgeschoben. Marokkanische Militärs setzten ihn mit mehreren hundert anderen Menschen in der Sahara aus. Anschließend irrten sie tagelang durch die Wüste.

    Aboubacar: "Unterwegs brachen immer wieder Menschen zusammen - ich konnte den Anblick kaum ertragen. Aber ich dachte an mich selbst. Ich hatte nicht mehr die Kraft, anderen zu helfen. Anfangs habe ich noch versucht, sie zu stützen, um sie zu retten. Aber schließlich konnte ich nicht mehr und habe sie liegen gelassen. Wir hatten alle keine Kraft mehr, denn wir waren fünf Tage lang unterwegs, ohne etwas zu essen. Wenn also jemand vor uns zusammenbrach, gingen wir schließlich einfach weiter. Jeder versuchte nur noch, sein eigenes Leben zu retten."

    Am Ende, als die Gruppe nach internationalen Protesten in der Wüste abgeholt wurde, sei sie nur noch halb so groß gewesen. Wenn das stimmt, sind mehrere hundert Menschen in der Wüste verschwunden - wie viele es tatsächlich sind, hat bislang niemand untersucht. Die Überlebenden wurden in ihre Heimatländer abgeschoben, gut 2000 von ihnen nach Mali. Gaoussou Samaké nahm sie im Oktober und November am Flughafen von Bamako in Empfang; er arbeitet für den malischen Zivilschutz.

    Gaoussou Samaké: "Viele hatten Schussverletzungen von Gummigeschossen der Grenzbeamten. Die Kugeln steckten bei einigen noch immer im Oberschenkel oder in anderen Körperteilen, als sie hier ankamen. Sieben Abgeschobene hatten ein gebrochenes Bein, sechs hatten ein Auge verloren, zwei ein Ohr. Bei zwei weiteren ist der Unterkiefer völlig zerfetzt. Sie wurden operiert und die Ärzte versuchten, Löcher im Gesicht mit einer Art Korken zu stopfen. Wenn man die Rückkehrer sah, dann konnte man meinen, sie seien Kriegsversehrte. Ja, sie haben uns Kriegsopfer gebracht."

    Im Zentrum von Bamako drücken sich etliche von ihnen am "carrefour des jeunes" herum, der "Kreuzung der Jugendlichen". Sie drängen sich durch die Autoschlangen und halten ihre Waren in die Höhe: Sonnenbrillen und Taschenrechner, Kosmetiktücher und T-Shirts, Prepaid-Karten und Kaugummis. Viele von ihnen kommen eigentlich nicht aus Bamako, nur: Sie trauen sich nicht nach Hause zurück. Denn die meisten von ihnen bekamen für die Reise viel Geld von ihren Familien, weil die Verwandtschaft hoffte, eines Tages von den Auswanderern unterstützt zu werden. Stattdessen kehrten die Hoffnungsträger mit leeren Händen zurück - und schämen sich, ihren Verwandten unter die Augen zu treten.

    Aboubacar dagegen wurde von seiner ganzen Familie herzlich aufgenommen. Doch er sitzt, wie eh und je, den ganzen Tag zu Hause, weil es in Bamako für ihn noch immer keine Arbeit gibt.

    Aboubacar: "Wenn das hier irgendwie möglich wäre, dann würde ich am liebsten in Bamako bleiben und mir hier eine Existenz aufbauen. Aber wenn ich das nicht schaffe und weiterhin mit Nichts dastehe, während man irgendwo auf dieser Erde Geld verdienen kann - dann will ich dahin gehen, wo ich arbeiten kann."