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Der Wunsch der Masse war Dürrenmatt

Neue Wege wollte das Hamburger Thalia Theater gehen, als es im Internet über den Spielplan abstimmen ließ. Glücklich mit dem Ergebnis, bei dem ein Frühwerk Dürrenmatts das Rennen machte, war das Haus nicht. Nun wird das Stück gezeigt - und ist immerhin unterhaltsam, meint Alexander Kohlmann.

Von Alexander Kohlmann |
    Lange Jahre war Dürrenmatts Frühwerk "Die Ehe des Herrn Mississippi” von den Bühnen und schließlich auch aus den Köpfen verschwunden. Wie ein altes verstaubtes Buch auf einem Dachboden liegt die Kulisse dieses Abends zusammengefaltet und vergessen auf der ansonsten bis zu den Brandmauern leeren Bühne des Hamburger Thalia Theaters. "Die Ehe des Herrn Mississippi" liest eine Schauspielerin vor, dann die für Dürrenmatt typischen prosaischen Regieanweisungen.

    "Wir sehen ein Zimmer, dessen spätbürgerliche Pracht zu beschreiben nicht leicht sein wird. Doch da sich die komplette Handlung in ihm abspielt, soll eine Beschreibung gewagt sein. Der Raum stinkt zum Himmel. Im Hintergrund zwei Fenster, die Aussicht verwirrend."

    Wer nach diesem Einstieg einen Dürrenmatt-Abend als konzertante, szenische Lesung erwartete, irrt sich. Die Schauspieler klappen das Riesenbuch auf, aus dem eine dreidimensionale, mit groben Strichen gezeichnete Salonkulisse zum Vorschein kommt. So hat sich das der alte Dürrenmatt also gedacht, vor über 60 Jahren. Ein Kostümständer wird hereingeschoben und die Schauspieler können sich, so viel Dekonstruktivismus muss dann doch sein, ganz offen auf der Bühne in die Figuren von einst verwandeln.

    Es ist schon eine seltsame Situation, einen Theaterabend zu besuchen, auf dem ein Stück gespielt wird, von dessen Text sich die Regisseurin öffentlich distanziert und das Ergebnis einer Spielplanwahl zu verfolgen, deren Regeln der Intendant einen Tag vor der Premiere als zu wenig ernsthaft kritisiert. Niemand im Haus wollte diesen Text auf der großen Bühne sehen, mindestens findet sich an diesem Abend kein einziger Verteidiger des Dürrenmatt-Textes. Diese Situation ändert, und das ist wirklich eine interessante Erfahrung, den ganzen Blick auf das slapstickhafte Geschehen auf der Bühne.

    Wo sonst ein Theaterabend ein Angebot zur Diskussion ist und sich an einem Text abgearbeitet wird, den wenigstens in der Spielzeitvorbereitung irgendein Dramaturg gegen viele andere Vorschläge verteidigt und durchgesetzt hat, übernimmt an diesem Abend niemand die Verantwortung für das Geschehen auf der Bühne. Das Thalia Theater hat seinen Auftrag an ein imaginäres Internetpublikum abgegeben, die Regisseurin Christine Eder und ihre Schauspieler müssen das Desaster nun ausbaden, das ihnen ein Anonymus im Netz wie ein falsches Weihnachtsgeschenk vor der Tür gestellt hat.

    Dabei schlagen sich Regisseurin und Ensemble durchaus wacker beim Blick in das alte Buch Schullektüre auf dem Thalia-Dachboden. Die beengte Klappkulisse an der Bühnenrampe lenkt den Blick ganz auf die plakativen Figuren. Die, da ist dem Dürrenmatt-Text einfach nicht beizukommen, stolpern so komödiantisch und realistisch wie im Theater von einst durch den Abend. Der naheliegende Versuch, dem Text mit alle Mitteln des Regietheaters von Mikrofonen, endlosen Erzählungen an der Rampe bis hin zu "ein Schauspieler spielt alle Figuren”-Experimenten beizukommen, entfällt.

    Glücklicherweise, denn unterhaltsam ist sie dann doch die Geschichte um die drei unverbesserliche Idealisten, einen Staatsanwalt, einen Arzt und einen Politiker, die jede auf ihre Weise die Welt verbessern wollen. Und natürlich in Wirklichkeit weniger an der Welt als an einer schönen Frau interessiert sind, es geht mal wieder um das "ewig Weibliche” also, um das sich sowieso immer alles dreht.

    "Wir sind einander wildfremd und es tut mir aufrichtig leid, Ihnen Ungünstiges nachsagen zu müssen, aber Ihr Mann hat Sie betrogen."

    "Wer hat Ihnen das gesagt?"

    "Meine unbestechliche Beobachtungsgabe, ich habe die Fähigkeit, das Böse aufzuspüren, wo immer sich das findet."

    "Ich weiß wirklich nicht, wie Sie dazu kommen, unmittelbar nach seinem Tod diese wahnsinnigen Behauptungen aufzustellen. Ihre Anschuldigung ist ungeheuer."

    Und befreit von allen Überlegungen, was uns das Theater wohl mit diesem Stoff Neues sagen will, genießt das Publikum das kurzlebige und banale Vergnügen, das diesmal tatsächlich zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausgeht. Und morgen schon so vergessen sein wird, wie diese Spielplanwahl, die bereits an ihrem eigenen Reglement gescheitert ist.

    Denn dass tatsächlich jedermann im Sinne von "jeder Mensch auf der ganzen Welt" hier mit abstimmen durfte war ein Fehler. So konnten ganze 5000 Abstimmende einem Publikum von 200.000 bis 300.000 Theaterbesuchern im Jahr drei Stücke auf der großen Bühne diktieren, von denen dann zum Glück nur zwei realisiert worden sind. Wenn Intendant Joachim Lux jetzt nachträglich erklärt, er persönlich hätte die Wahl am liebsten ganz anders organisiert, dann überrascht das angesichts der immer noch streng hierarchischen Staatstheaterstrukturen dann doch: Wer, wenn nicht ein deutscher Theaterintendant sollte denn noch in der Lage sein, seinen Willen durchzusetzen. So sagt die nachträglich zur "Kunstaktion" verklärte Spielplanwahl auch viel über das besonders ausgeprägte Verhältnis des Thaliateams zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen aus. Allein: In diesem speziellen Fall wäre das gute alte Intendantenmachtwort wirklich segensreich gewesen.