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Deutsche Beteiligung am Völkermord an den Armeniern

Für ein Dauerproblem im südlichen Kaukasus, also jenseits des Gebirgsmassivs, sorgt immer noch, nach knapp 100 Jahren, der Konflikt zwischen den Türken und den Armeniern. Während die Türkei, von vereinzelten Stimmen abgesehen, sich bis heute weigert die Schuld für einen Völkermord einzufordern, werden Exil-Armenier, aber auch die GUS-Republik Armenien, nicht müde, genau dies einzufordern. Selbst den angestrebten EU-Beitritt der Türkei belastet diese politische Amnesie Ankaras inzwischen. Weitgehend unbekannt hingegen ist immer noch, dass auch das deutsche Kaiserreich bei der - wie es hieß - "Armenier-Frage" eine ganz eigene Rolle spielte. Damit beschäftigt hat sich Rolf Hosfeld: "Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern".

Von Gesine Dornblüth | 12.09.2005
    Der "Schwalbenhügel" in Jerewan, die Genozid-Gedenkstätte, ist Pflichtprogramm für jeden Besucher der armenischen Hauptstadt. Mächtige Steinplatten bilden einen Kreis, neigen sich nach innen. Daneben ragt ein 44 Meter hoher Dorn aus Granit in den blauen Himmel. Der Kreis symbolisiert das an die Türkei verlorene Westarmenien, die dünne Spitze hingegen die viel kleinere heutige Republik Armenien. Anfang des letzten Jahrhunderts wurden in der heutigen Türkei hundertausende Armenier massakriert. Rolf Hosfeld, Autor des Buches "Operation Nemesis", hat keinen Zweifel, dass es sich bei den Ereignissen 1915 um einen zentral organisierten Völkermord handelte.

    " Es ist ja ein Thema, was zumindest von der türkischen Seite immer noch bestritten wird und da, glaube ich, ist es dann doch wichtig, dass man da nicht allgemein nur drüber erzählt, sondern dass man auch tatsächlich in die Details reingeht, soweit sie belegbar sind. Und sie sind belegbar, insbesondere durch die Dokumente, die man im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin findet, aber auch durch entsprechende Dokumente in Auswärtigen Ämtern in Washington oder auch in Wien beispielsweise, weil Wien war ja auch neben Deutschland Kriegsverbündeter der Türkei im Ersten Weltkrieg. "

    Rolf Hosfelds Leistung besteht darin, dass er mit Hilfe dieser Quellen detailgetreu veranschaulicht, wie es zu dem Genozid kam und wie er ablief. Angefangen mit den ersten, wie er es nennt, "strategischen Morden" 1895 noch unter Sultan Abdul Hamid. Formaler Auslöser dafür war damals eine Demonstration von Armeniern in Konstantinopel, heute Istanbul. Zum nächsten großen Massaker kam es im April 1909. Rund 20.000 Armenier wurden in der Gegend um Adana im Süden der heutigen Türkei niedergemetzelt. Und nur sechs Jahre später, 1915, kam es dann zu den Massenmorden und der systematischen Vertreibung der Armenier aus ganz Anatolien. Akribisch reiht Hosfeld in seinem Buch "Operation Nemesis" die Ereignisse aneinander, zeichnet die diversen Gewaltwellen nach, rekonstruiert, wie einzelne Morde oder Überfälle zu Massenmorden ausarteten. Am Ende war ein ganzes Volk nahezu ausgerottet. Hosfeld bettet das Geschehen in den internationalen Kontext ein, in die angebliche Bedrohung des Osmanischen Reiches durch das Wegbrechen des Balkans und in den Ersten Weltkrieg. Seine Ausführungen belegt er stets korrekt durch entsprechende Zitate. Schade nur, dass er gelegentlich vage formuliert - zum Beispiel, wenn es um den Vorwurf der Türken geht, die Armenier aus der Region um Wan hätten sich im Krieg nicht loyal verhalten, sondern den Kriegsgegner Russland unterstützt.

    " Fast könnte man sagen, dass viele Armenier Wans loyaler waren als manche Türken. In den kurdischen Gebieten wird die Einberufung ohnehin nur unter größtem Widerstand befolgt, und die Zahl der Deserteure ist dort weit höher als unter Armeniern. Doch auch Türken ist das persönliche Wohlergehen oft wichtiger als der Dienst fürs Vaterland. "

    In einem so sensiblen diplomatischen Feld wie der armenisch-türkischen Frage ist das fahrlässig. Gerade an solchen Stellen wäre es nötig gewesen, zumindest Zahlen anzuführen. Hosfelds Buch trägt den Untertitel "Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern". Dementsprechend viel Raum nimmt die Frage ein, welche Rolle das Deutsche Reich bereits vor dem Ersten Weltkrieg und weit über das Kriegsende hinaus in dieser Tragödie gespielt hat. Autor Hosfeld:

    " Ich glaube, auch für die deutsche Politik gibt es spätestens seit dem 7. Juli 1915 nicht den geringsten Zweifel, dass das ein Völkermord gewesen ist. An diesem Tag hat der deutsche Botschafter nach Berlin gemeldet: Seiner Ansicht nach ist es die erklärte Absicht der türkischen Regierung, die armenische Rasse im türkischen Reich zu vernichten. "

    Zwar haben die deutschen Diplomaten regelmäßig nach Berlin berichtet, was in der Türkei geschieht, doch politische Reaktionen blieben damals aus.

    " Deutschland befindet sich an der Seite des Osmanischen Reichs im Krieg und da ist "Realpolitik" angesagt. "Einen Bruch mit der Türkei wegen der armenischen Frage herbeizuführen", betont der Unterstaatsekretär im Auswärtigen Amt, Zimmermann, "hielten und halten wir nicht für richtig." "

    Die Solidarität der Deutschen mit dem damaligen Verbündeten Türkei ging sogar noch über das Kriegsende hinaus. Deshalb war es möglich, dass einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord, der ehemalige Großwesir Talaat Pascha, unbehelligt in der Berliner Fasanenstraße leben konnte, bis er 1921 von einem Angehörigen des armenischen Geheimkommandos "Nemesis" erschossen wurde - jene "Operation Nemesis", die Hosfeld als Titel für sein Buch wählte. Der Attentäter wurde vom Berliner Landgericht freigesprochen. Hosfeld lässt einen Zeitzeugen etwas kompliziert urteilen:

    " Rechtspolitisch war dieser Prozess von besonderer Bedeutung, weil zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte der Grundsatz zur Anerkennung kam, dass grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, begangen durch eine Regierung, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können und keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates bedeuten. "

    Mit anderen Worten: Deutschland hat zwar während des Völkermords versagt, aber immerhin die Lynchjustiz an einem der Verantwortlichen gebilligt. Leider sind klare Worte nicht die Stärke des Buches, und deshalb gehen manche erhellenden Gedanken unter. Hosfelds Buch belegt einmal mehr: Es gibt nichts zu leugnen am Völkermord. Das allein macht es wert, das Buch zu lesen. Proteste von türkischer Seite gegen das Werk sind bisher ausgeblieben. Selbst der Autor ist darüber erstaunt:

    "...weil: Ich habe früher selbst bei kleineren Veröffentlichungen in irgendwelchen Zeitungen oder Zeitschriften immer irgendwelche Reaktionen zu verspüren bekommen, aber diesmal nicht, und ich glaube, das hängt damit zusammen, dass auch der Umgang, auch durch den europäischen Einigungsprozess und das Bedürfnis, der Europäischen Union beizutreten, sich doch etwas zivilisiert hat. Ich denke, dass ein unbefangenes und offenes Verhältnis zur eigenen Geschichte auch eine Bedingung dafür ist, dass die Türkei zu einem wirklichen demokratischen Staat sich entwickelt. Und das ist in erster Linie eine Frage ihres eigenen Interesses. "

    Die Detailversessenheit und die Menge von Zitaten machen die Lektüre von Hosfelds Buch anstrengend. Hinzu kommt: Der Autor setzt unglaublich viel Geschichtswissen voraus. Eine Zeittafel hätte dem Ganzen sicher gut getan, zu leicht verliert der Leser sonst den Überblick.

    Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, 368 S., EUR 19,90