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Die Arbeiter des Meeres

An diesem Weihnachtsmorgen war die Küstenstraße von Saint-Pierre-Port nach Valle völlig weiß. Es hatte von Mitternacht an bis zum Morgengrauen geschneit. (...) Auf dem gesamten Wegstück zwischen den beiden Kirchtürmen befanden sich nur drei Passanten: ein Kind, ein Mann und eine Frau, und es gab sichtlich keine Verbindung zwischen ihnen. Das Kind von etwa acht Jahren war stehengeblieben und schaute neugierig auf den Schnee. Der Mann folgte in einer Entfernung von etwa hundert Schritten auf die Frau und war, wie sie, auf dem Weg nach Saint-Sampson. Die Frau hatte offenbar schon ihre Kleidung für den Kirchgang angelegt. Ihre Haltung besaß jene flüchtige Anmut, die den zartesten aller Übergänge kennzeichnet: das Erwachsenwerden, worin sich zwei Dämmerungen - Abend der Kindheit und Morgengrauen des Frauseins - miteinander vermischen. Der Mann hatte kein Auge für sie. Bei einem Wäldchen aus immergrünen Eichen wandte sie sich abrupt um, und diese Bewegung veranlasste den Mann, sie anzusehen. Sie blieb stehen, bückte sich; und der Mann glaubte, zu sehen, dass sie etwas in den Schnee schrieb. Er verspürte nicht das geringste Bedürfnis sich zu beeilen, und erreichte einige Augenblicke später das Eichengehölz. Er hatte die inzwischen verschwundene Passantin schon vergessen. Zufälligerweise hatte er aber seine Lider gesenkt, so dass sein Blick ganz von selbst auf die Stelle fiel, an der das Mädchen stehen geblieben war. Zwei kleine Fußtapsen hatten sich dort eingedrückt, und daneben las er das von ihr in den Schnee geschriebene Wort: "Gilliatt". Dieses Wort war sein Name.

Antje Ravic Strubel |
    So schlicht beginnt der Roman Die Arbeiter des Meeres . "Ein Wort, auf eine weiße Seite" geschrieben heißt dieses erste Kapitel, und dieses Wort wird die folgenden sechshundert Seiten überstrahlen. In schönster Welterschaffungsmanier wird hier mit dem Dreigestirn Mann, Frau und Kind und der Namensgebung ein literarischer Kosmos entworfen, in dem sich die Gesamtheit der menschlichen und kreatürlichen Natur spiegelt.

    Für Gilliatt, den ungelenken Fischer aus Guernsey, verbinden sich sein Name im Schnee und das Mädchen Deruchette, Tochter des Dampfschiffbesitzers Lethierry, zu einem Bild von solcher Leuchtkraft, das es sich ihm für immer einbrennt. Er verliebt sich - sterblich - in sie.

    Victor Hugo hat die Arbeiter des Meeres als letzten Teil einer Trilogie konzipiert, in der die drei Mächte, mit denen der Mensch zu ringen hat, dargestellt werden sollen. In Notre-Dame-de-Paris setzt er sich mit der Macht der Religion auseinander, in Die Elenden rückt die Gesellschaft in den Mittelpunkt. Im dritten Teil ist es die Natur, die einen Großteil des Erzählten bestreitet und sich am Ende die Hauptfigur Gilliatt zurückholt, nachdem dieser sie zuvor besiegt hatte. Der Fischer wird seiner Liebe zu Deruchette entsagen, und das Meer wird ihn auslöschen, wie die Sonne seinen Namen im Schnee. Mit Gilliatt hat Hugo wie in vielen seiner Romane einen Außenseiter zur Hauptfigur gemacht. In Guernsey, einem Ort auf der französischen Seite der Kanalinseln, gilt der riesenhafte Gilliatt als monströs, als seltsamer Kauz. Auch er selber scheint sich dieser Meinung über seine Person schon angeschlossen zu haben. Nach dem Tod seiner Mutter bewohnt er allein das Haus "Weges-Ende" nah bei den Klippen, die zum Meer führen. Allein fährt er mit seinem Boot zum Fischen, einsam streicht er die Dorfstraßen entlang, in sich gekehrt verkauft er die Erträge seines Gartens.

    Aber was er auf diese verlorene Weise tut, gelingt ihm besonders. Es scheint, als wäre die begrenzte Fähigkeit sich auszudrücken, die notwendige Voraussetzung für den Umgang mit der an sich stummen Natur. Die schwerfällige Artikulation Gilliatts kontrastiert heftig mit den Monologen der Wellen, den Beschreibungen der schroffen Douvres-Klippen in ihrem ewigen Konflikt mit dem Wasser und den lyrischen Stimmungen, in denen Hugo Meer und Wolken einfängt. Es scheint, als ginge Gilliatt, der in diesem Roman kaum je ein Wort sagt und von dem doch die meiste Zeit die Rede ist, in der anderen, referenzlosen Sprache auf, in diesem zyklischen Werden und Vergehen der Pflanzen, in der Regelmäßigkeit der Gezeiten und Stürme. Das wird sich später bei seinem todesmutigen Kampf mit dem Meer als Vorteil erweisen. Wie sehr Gilliatt selbst als Naturerscheinung angesehen wird, zeigt der absurde Aberglaube, mit dem die Bevölkerung von Guernsey ihn ebenso belegt wie etwa das Wetter. Über solche Mystifizierungen, die sich an alles vom Gewohnten Abweichende heften, auch wenn die angebliche Hexerei Gilliatts mehr darin zu bestehen scheint, aus genauen Beobachtungen die richtigen Konsequenzen zu ziehen, zieht Hugo in einer großen Satire her.

    Man munkelte und mutmaßte - war aber nicht ganz sicher -, dass Gilliatt Zauber- und Liebestränke braute oder sonst was ‘destillierte’; denn er besaß Phiolen. Warum trieb er sich abends und manchmal bis Mitternacht an der Steilküste herum? Doch wohl, um mit den bösen Geistern Umgang zu haben, die nachts in den Dunstschwaden des Meeresufers wesen. Manchmal sah man ihn auch, wie er aus einem Krug Wasser auf den Boden goß. Nun, Wasser, das man auf die Erde schüttet, nimmt die Umrisse des Teufels an. Gilliatt betrieb allem Anschein nach Schwarzkunst. Zumindest zweifelte niemand daran. Es gibt an der Straße von Saint-Sampson drei treppenförmig angeordnete Steine. Äußerst kluge und glaubwürdige Leute versichern, gesehen zu haben, wie Gilliatt ganz in der Nähe dieser Steine mit einer Kröte sprach. Nun gibt es auf Guernsey überhaupt keine Kröten, die Kröten sind alle auf Jersey. Diese Kröte muß also von dort herübergeschwommen sein, um mit Gilliatt zu sprechen. Sie plauderten übrigens sehr freundschaftlich miteinander. Dass dies erwiesene Tatsachen sind, bezeugen die drei Steine, die immer noch an derselben Stelle sind.

    Gewissermaßen als Antithese wird Gilliatt der rechtschaffene, ehrbare und von allen geschätzte Sieur Clubin gegenübergestellt, Kapitän von Lethierrys Dampfschiff. Aber ebenso wie sich der verachtete und verschlossene Gilliatt später zu einem Helden wandeln wird, erfährt Clubin eine Umkehrung ins abgrundtief Böse. In einer Nebelnacht lässt er Lethierrys Schiff, das eines der ersten Dampfschiffe auf den Kanalinseln ist und jede Menge Profit abwirft, auf die Douvresklippen auflaufen, um mit dem Vermögen durchzubrennen. Auch das wird später vom Meer vereitelt. Antithesen, krasseste Widersprüche und Disharmonien sind nichts Ungewöhnliches in den Büchern eines Autors wie Hugo, der aufgrund seiner streitbaren politischen Haltung 1852 aus Frankreich verbannt wurde, nachdem er zuerst die Juli-Monarchie verteidigte und sich später mit der rechtsgerichteten Regierung überwarf. Öffentlich trat er gegen die Todesstrafe und für Pressefreiheit ein. Widersprüche in seinen Romanen löst Hugo nicht auf, sie dienen ihm vielmehr zur Komposition apokalyptischer Visionen.

    So erschöpft sich auch die Frage, wie weit der Mensch die Macht besitzt, aus der Welt das zu machen, was er will, in einem Schwanken: Unentschieden bleibt, ob die Natur mithilfe von Technik beherrschbar wird, wie zumindest das historische Zeitgeschehen suggerierte, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Einsatz industrieller Maschinen geradezu als Revolution gefeiert wurde. Oder ob sich nicht vielmehr der Mensch mit seiner Technik der Natur nur anpasst, um nicht unterzugehen. Dieses Schwanken spiegelt ähnlich auch die Sprache des Romans. Hugo, selbst Exilant auf Guernsey, zeichnet die Klippen und das Meer in einer wogenden Sprachkraft als Abgrund, als Dämon, der im Einklang mit Sturm und Meeresgetier droht, alles Menschliche zu verschlingen. Eine Enzyklopädie der Winde entfaltet sich, der Wassermassen und Gesteine, Dunkelheit, Himmel und Licht werden in all ihren Facetten, sowohl den grauenerregenden als auch den wunderbaren, ausgeleuchtet.

    Fast naturwissenschaftlich scheint der Anspruch, alle Lebewesen, selbst kleinste Stabtierchenalgen, durch detaillierteste Beschreibung in ihr Recht zu setzen, was streckenweise eine ziemlich strapaziöse Lektüre ist. Die Genauigkeit der Aufzählung erinnert an den positivistischen Glauben, die Welt durch Benennung und Auflistung ihrer Dinge erklären zu können. Aber es scheint doch auch, als stünde dahinter ein Vertrauensverlust in die Kraft der Sprache, als hielte man ihre Fähigkeit zur Repräsentation für erschöpft und versuchte trotzdem in einem letzten gewaltigen Aufschäumen noch einmal eine Dingwelt mit ihrer Hilfe zu beschwören, die sie zukünftig nur noch bedeuten kann. Denn schon jetzt werden Namen und Bezeichnungen in diesem Roman wie Gegenstände gehandhabt, wird somit der Sprache selbst eine Objekthaftigkeit zuerkannt, die eine Referenz auf eine dahinterliegende dinghafte Welt nicht mehr nötig hat. Die gewaltige Sprachkraft der "Arbeiter des Meeres" ist gleichzeitig die Infragestellung ihrer Macht.

    Den Kanalinseln jedoch hat Hugo im Eröffnungskapitel ein Denkmal gesetzt. Nicht eigentlich zum Roman gehörig, aber in ihn einführend, werden Guernsey, seine Bevölkerung und seine Landschaft essayistisch kartographiert. Sämtliche Register des damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstands werden gezogen, um ein dichtes Netz an Information aus Geologie, Meterologie, Sozialgeschichte oder Meeresbiologie über den Schauplatz der künftigen Handlung zu legen, eine Technik, wie sie auch Balzac gern benutzte. In der jetzt in der Achilla Presse erstmals ungekürzt auf deutsch erschienen Fassung des Romans in der Übersetzung von Rainer G. Schmidt bildet dieses Essay den Schluss.

    Der Atlantik zernagt unsere Küsten. Der Druck der vom Pol kommenden Strömung verformt unsere westliche Steilküste. Gewaltige Brocken stürzen herab, das Wasser wälzt ganze Wolken von Kieseln vor sich her, unsere Häfen versanden oder verschottern, Barren schieben sich vor unsere Flussmündungen. Täglich reißt ein Stück normannischer Erde ab und verschwindet in der Flut. Diese ungeheure Arbeit, die heute langsamer vonstatten geht, ist schrecklich gewesen. Einen Begriff von der Kraft dieser polaren Strömung und der Gewalt dieser Auswaschung kann man sich anhand der Bresche machen, die sie zwischen Cherbourg und Brest geschlagen hat. Diese Entstehung des Ärmelkanals auf Kosten französischen Bodens datiert in vorgeschichtliche Zeit zurück. 709, siebzig Jahre vor der Thronerhebung Karls des Großen, hat eine Sturzsee Jersey von Frankreich losgerissen. Weitere Gipfel des zuvor untergetauchten Festlandes sind nun, wie Jersey, sichtbar. Diese aus dem Wasser ragenden Spitzen sind Inseln, die insgesamt den normannischen Archipel bilden. Es gibt dort einen arbeitsamen menschlichen Ameisenhaufen. Dem Fleiß des Meeres, der ein Zerstörungswerk vollbracht hat, ist der Fleiß des Menschen gefolgt, der ein Volk geschaffen hat.

    Auf einer dieser aus dem Meer ragenden Inseln läuft das Dampfschiff Lethierrys auf. Als sich Deruchette, Lethierrys Tochter, demjenigen zur Frau anbietet, dem es gelingt, die unversehrte Schiffsmaschine aus dem Wrack zu bergen, sieht Gilliatt seine Chance gekommen. Der Held zieht aus, sich mit der gleichgültigen, aber furchtbaren Natur zu messen, und schließlich mit der Trophäe des Sieges und der Aussicht auf Heirat zurückzukehren. Unter einer Malve versteckt, sieht Gilliatt Deruchette wieder, die im Mondschein durch den Garten spaziert.

    Dieser ganze Schatten, der Deruchette durchwogte, lastete auf Gilliatt. Er war von Sinnen. Ist es möglich, ihr so nah zu sein? Sie atmen hören, sie atmet also! Dann atmen auch die Sterne. Gilliatt erschauderte. Er war der elendste und trunkenste Mensch. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er betrachtete diesen Nacken und diese Haare; aber er sagte sich nicht einmal, dass ihm dies alles gehörte, dass er binnen kurzem, morgen vielleicht, das Recht haben würde, diese Haube abzunehmen. Selbst dies nur zu denken, zu solcher Kühnheit hätte er sich in keinem Augenblick verstiegen. In Gedanken berühren, das ist fast mit der Hand berühren. Die Nachtigall sang. Er glaubte zu sterben. Der Gedanke, aufzustehen, die Mauer zu übersteigen, sich zu nähern, zu sagen: hier bin ich, dieser Gedanke kam ihm nicht. Und wäre er gekommen, hätte er die Flucht ergriffen. Wenn irgendetwas Gedankenähnliches in seinem Kopf aufkam, dann das, dass Deruchette da war, dass es nicht mehr brauchte und dass die Ewigkeit anfing.

    Eine paradiesische Ewigkeit scheint für Gilliatt anzubrechen, nachdem er der Ewigkeit des Grauens vorerst noch einmal entkommen ist. Führte ihn der Kampf gegen eine Natur, die keineswegs dem rousseauschen Ideal von der heilen Welt entspricht, an den einen Rand menschlicher Existenz, steht er jetzt am entgegengesetzten Ende. Deruchette ist das Glück, das ihn ebenso auslöschen kann wie der Riesenkrake, dessen Fangarme Gilliatt in einer unterseeischen Höhle zuvor fast erwürgt hätten. Der Angriff des Kraken ist der Höhepunkt der dramatischen Rettungsaktion auf See und zugleich ein stilistischer Höhenflug seines Autors, der jüngere Schriftsteller wie Rimbaud sichtbar beeinflusste. Die tödliche Umarmung des Kraken beschreibt Hugo wie eine Vergewaltigung. Aber die Vergewaltigung ist seltsam entkörperlicht. Es ist das Nichts, was Gilliatt hier die Saugnäpfe ansetzt, die Leere im metaphysischen Sinn, in die es den Helden hineinzusaugen droht.

    Übrig bliebe, so heißt es, nichts als seine Hülle. Als Symbol der Abwesenheit von Sinn spiegelt der Krake die Gesamtheit einer amoralischen Natur. Aber dieses Tier, das seine Beute entleert und gleichzeitig selbst leer bleibt, bildet auch das Zentrum des Romans und ist zugleich sein Erzählprinzip. Wie der Krake seine Arme unvorhersehbar in alle Richtungen streckt, greift auch Hugo in jede Sphäre des Erzählbaren hinein, umarmt sprachlich das Universum, aber nur, um sich seiner Leere bewusst zu werden. Und wie der Krake ein "Hautsack ohne Inhalt" zu sein scheint, versiegt angesichts dieser Leere auch die Sprache. In jedem Versuch, den Dingen eine gesicherte Bedeutung zu geben, lauert der Widerspruch, lauern Paradoxien und erzählerische Leerstellen, die mit einem erneuten Überschuss an Worten gefüllt werden müssen. Aber Hugo ist auch mit dem Willen ausgerüstet, das Nichts zu transzendieren. Heillos optimistisch versteht er es als nicht Sichtbares, das es nur zu enthüllen gelte, wie abscheulich es auch immer sein möge. Vor diesem Hintergrund formuliert sich seine Vision vom Erhabenen, die weder etwas gemein hat mit der unantastbaren Schönheit der Klassik, noch sich in Form Kantscher Vernunft und moralischer Gesetze niederschlägt. Für Hugo bedeutet das Erhabene eine "deformation grandiose", die nur um den Preis des Grotesken, des Abscheulichen zu erkaufen ist, worin wiederum ein typisch romantischer Charakterzug des Romans liegen dürfte.

    Das Unbekannte verfügt über das Wunderbare und bedient sich seiner, um das Ungeheuer zu schaffen. Dieses Tier saugt sich an seiner Beute fest, umhüllt sie und fesselt sie mit seinen langen Banden. Auf der Unterseite ist es gelblich, oben erdfarben, von einer unerklärbaren staubigen Tönung, für die sich kein Ausdruck finden ließe. Gewissermaßen ein Tier aus Asche, das im Wasser lebt. Er ist ein schlaffer Hautsack ohne Inhalt. Im Mittelpunkt seiner Strahlen hat er eine einzige Öffnung. Klafft da ein After auf oder der Mund? Dasselbe Loch versieht die beiden Funktionen. Der Eingang ist der Ausgang. Das ganze Tier ist kalt. Man bekommt es mit dem Leeren zu tun, das Tatzen hat. Mit den Krallen dringt das Tier in euer Fleisch ein; beim Saugnapf aber dringt ihr selbst ins Tier ein. Eure Muskeln schwellen an, die Fasern krümmen sich, die Haut platzt, das Blut spritzt auf und mischt sich in abscheulicher Weise mit dem Körpersaft des Mollusken. Die Hydra verleibt sich dem Menschen ein; der Mensch vermischt sich mit der Hydra. Beide bilden ein einziges Wesen.

    Einmal mit diesem Nichts infiziert, scheint es sich endlos fortzusetzen. Obwohl Gilliatt den Kraken besiegt und die Schiffsmaschine Lethierrys sicher in den Hafen zurückbringt, ist der Moment seiner höchsten Verzückung gleichzeitig der seiner Auslöschung. Die Namensgebung im Schnee kann nicht Wort halten. Im mondbeschienen Garten muß Gilliatt mit anhören, wie Lethierrys Tochter einem anderen, dem Pfarrer Ebenezer, ihre Liebe gesteht. Und in einer geradezu unwahrscheinlichen Geste der Entsagung verzichtet der Held daraufhin auf seine Belohnung.

    Mess Lethierry schaute Gilliatt an, blieb einen Augenblick lang sprachlos und platzte dann heraus: ‘Ah! es ist dir doch wohl klar, dass du Deruchette heiratest.’ Gilliatt lehnte sich wie ein Schwankender an die Wand und sagte sehr leise, aber sehr deutlich: ‘Nein.’ Mess Lethierry zuckte zusammen. ‘Wie, nein?!’ Gilliatt antwortete: ‘Ich liebe sie nicht.’

    Damit nicht genug, bringt Gilliatt in einem schwer begreiflichen Akt der Selbstlosigkeit auch noch die Hochzeit zwischen dem Pfarrer und der geliebten Deruchette gegen den Willen Lethierrys zuwege, der viel lieber den Helden Gilliatt als Schwiegersohn sähe. Die erzählerisch breit angelegten Kämpfe auf den Douvres-Klippen verstärken das Unwahrscheinliche an diesem Großmuß, statten Gilliatt mit geradezu übernatürlichen Charakterzügen aus. Wenn man, um das überhaupt nachvollziehen zu können, hier nicht ganz auf die Abwege christlicher Nächstenliebe oder autoaggressiver Verhaltensmuster geraten will, muß man annehmen, dass, wer einmal durch die Hölle geht, eine totengleiche Ruhe entwickelt, aus der ihn kein noch so großer Liebesschmerz herausreißen kann.

    Vielleicht aber sind, um das zu erklären, weder Psychologie noch christliche Motivik besonders geeignet. Vielmehr scheint es um die Entwicklung eines literarischen Modells zu gehen, mit dem einem sich verändernden Wirklichkeitsbegriff im ausgehenden 19. Jahrhundert beigekommen werden soll.

    Vor dem Hintergrund des Zerfalls einer ganzheitlichen, gottgegebenen Wirklichkeit, mit der Heraufkunft des Nihilismus in der Philosophie, wird in der Literatur ein Ideal formuliert, wie es heute nicht mehr zu finden ist: Ein männlicher Hauptheld entsagt seiner Liebe, um seine Einmaligkeit zu bewahren. Zwiespältige Helden, die mit vom Gewohnten abweichenden und oft negativ bewerteten Eigenschaften ausgerüstet sind, ist der Literatur jener Zeit nicht unbekannt. Fürst Myschkin in Dostojewskis Roman "Der Idiot" ist eine ähnliche Ausnahmegestalt wie Gilliatt. Dostojewskis Roman entstand übrigens gleichzeitig mit den "Arbeitern des Meeres" in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Wo der eine Held grotesk erscheint und nach dem Kampf mit dem Seeungeheuer so körperlich entstellt ist, dass Deruchette bei seinem Anblick gar in Ohnmacht fällt, ist der andere lächerlich bis zur Fratzenhaftigkeit.

    Auch Fürst Myschkins narrative Sprengkraft besteht auffälligerweise in der Entsagung der Liebe. Der verarmte epileptische Fürst verweigert sich der exaltierten Nastasja Filippowna. Die naheliegenden, psychologischen Gründe dafür mögen in einer entsexualisierten Kindlichkeit und der Unfähigkeit liegen, Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus scheint es aber um die Aufrechterhaltung der Abweichung zu gehen. Ein Ideal, das sich nicht in die bare Münze der Wirklichkeit einlösen lässt, in diesem Fall in die Ehe, sichert immerhin ihre Infragestellung. Der "überflüssige Mensch" der russischen Literatur kann von der Gesellschaft ebenso wenig funktionalisiert werden wie Hugos grotesken Gestalten. Fürst Myschkin durchlebt die Konflikte seines Bewusstseins in Dialogen und psychologischen Selbstreflektionen. Die Konflikte des Hugoschen Helden hingegen, der zu jeglicher Kommunikation unfähig ist, werden ins Äußere, man könnte sagen: ins Äußerste der Natur projiziert. Mit der Entsagung wird nichts gelöst, nur das Leiden wird als Hauptursache dieser abweichenden Bewusstseinsform anerkannt. Das Ideal nämlich ist nur denkbar, wenn es sich mit dem Schrecklichen verbindet: der Idiotie wie bei Myschkin oder eben mit dem Tod. Der autonome Charakter muss per definitionem außerhalb des Gesellschaftlichen bleiben.

    Hierin mag eine Motivation der sonst so märtyrerhaft anmutenden Entsagungen liegen. Mit der Heirat von Deruchette würde Gilliatt zu einem Teil der Norm, zu einem anerkannten Mitglied des bürgerlichen Lebens auf Guernsey. Damit verlöre er zumindest literarisch die Fähigkeit, bestehende Sicherheiten zu unterlaufen. Und genau in diesem Zweifel an einem homogenen Wirklichkeitsbegriff besteht die Funktion dieses männlichen Ideals. Bezeichnenderweise sind es nicht mehr die Fakten dieser Wirklichkeit selber, die in Frage stehen, sondern die Bedeutungen, die man den Fakten gibt, wie die wilde Hugosche Benennungs- und Bezeichnungsorgie zeigt, die alles Bedeutete am Ende in die Inflation reißt. Aus dem Nichts kommend, versiegt die Sprache wieder im Nichts.

    Aber Figuren wie Fürst Myschkin und Gilliatt dürften literarische Entwürfe sein, die sich nicht durchgesetzt haben. Man stelle sich angesichts von Romanen wie die "Elementarteilchen" oder "American Psycho" solch großmütige Entsagungen vor! Längst haben andere Erzählmodelle diese Helden verschlungen wie die steigende Flut Gilliatt, die ihn ergreift und ertränkt, als er weit hinaus auf die Klippen steigt, um den Neuvermählten so lange wie möglich nachzuschauen, die auf einem Schiff in Richtung England davonfahren.