Archiv


Die brutalste Gang der Welt

Der US-amerikanische Regisseur Cary Fukunaga hat einen Film über die lateinamerikanische Gangsterwelt gedreht - und über die Flüchtlinge, die versuchen, die Grenze zu den USA zu überqueren: "Sin Nombre". Ein Film voll hartem Realismus und brennend aktuell: Er gibt den Schicksalen ein Gesicht, von denen wir täglich in der Zeitung lesen.

Von Rüdiger Suchsland |
    Nach Norden. Da wollen sie hin. Denn im Norden lockt die Verheißung. Sie heißt "Estados Unidos", Vereinigte Staaten und bietet Reichtum, Glück, Frieden und Sicherheit. Die Länder aus denen sie kommen, haben all das nicht. Darum fahren sie, die Menschen Mittelamerikas, mit dem Auto, mit Bussen, und vor allem zu Tausenden auf den Dächern der Güterzüge, bis zur "Border" am Nordrand Mexikos, der Grenze zum vermeintlichen Paradies, die kaum harmloser gesichert ist, als einst die Zonengrenze, die Deutschland teilte. Auch diese Grenze scheidet zwei Welten.

    "Sin Nombre" heißt dieses fulminante Filmdebüt des US-Regisseurs Cary Fukunaga, "Namenlos", wie jene Migranten, die ihre Papiere wegwerfen und ihre Herkunft vergessen, bevor sie Teil des ununterbrochenen Stroms werden, der sich nach Norden zieht. "Sin Nombre" ist glänzend inszeniert: Dynamisch, musikalisch, überaus human, ohne je in Betroffenheitskitsch abzugleiten. Eigentlich handelt es sich um mehrere Filme zugleich: Der erste handelt von den Flüchtlingen. Der zweite vom Verbrechen und der Mafia. Der dritte, von der Welt, in der wir alle leben.

    Es beginnt als klassischer Gangsterfilm: Eine harte Männerwelt, brutale Initiationsrituale, Raub, Schutzgelder, schnell der erste Mord. Wir begegnen Casper, bereits ein erfahrenes Gangmitglied, und der erst zwölfjährige Smiley, eine Art Kindersoldat des Verbrechens, der gerade in die Gruppe aufgenommen wird.

    Es ist die Welt der Mara, jener rätselhaften Mafiagang, deren Netz ganz Lateinamerika überzogen hat. Es gibt die Mara tatsächlich, sie gelten als die brutalste Verbrecherbande der Welt, aber vielleicht ist das auch nur Gangstermythologie. Im Norden Mexikos wo täglich Dutzende in einem blutigen Gangkrieg sterben, den wir Europäer bisher ignorieren, hat der Staat vor ihnen jedenfalls schon vorläufig kapituliert. Aber ihre Bosse sitzen in Los Angeles. Man erkennt die Mara an ihren auffälligen Gesichtstatoos. Sie verstecken sich nicht, aber sie wollen auch keine Publicity. Im vergangen Jahr ermordeten sie einen Dokumentarfilmregisseur, nachdem der einen Film über sie gemacht hatte. Auch wenn Cary Fukunaga mit Schauspielern gearbeitet hat, ist "Sin Nombre" daher auch nicht ganz risikolos.

    Pardon wird in dieser Welt nicht gegeben, und darum ist Casper vogelfrei, als er seinen Gangführer tötet. Jetzt muss er nach Norden fliehen. Dabei trifft er Sayra aus Honduras, die mit Vater und Onkel die gefährliche Reise in den Norden wagt. Ihre Flucht vor der Polizei, vor Räubern, vor amerikanischen Grenzbeamten und vor ihrer Vergangenheit bestimmt die zweite Hälfte des Films, der nun zu einer Art Road Movie auf dem Zug geworden ist.

    Auf den ersten Blick hat all das fast etwas Romantisches. Und manche Momente sind tatsächlich "cool und sexy", wie der Verleih wirbt. Aber vor allem ist "Sin Nombre" ein Film voll hartem Realismus und brennend aktuell: Er gibt den Schicksalen ein Gesicht, von denen wir täglich in der Zeitung lesen. Dieser Tage erst konnte man die Meldung hören, dass immer mehr der Mittellosen, die nach Norden ziehen überfallen werden, beraubt, mitunter vergewaltigt, oder gar ermordet.

    "Sin Nombre" erzählt das im Prinzip kühl, und versucht nur für uns, für das verwöhnte Wohlstandspublikum im Westen, alles erträglich zu halten. Denn natürlich ist die Wirklichkeit viel schlimmer, als in diesem Film.

    Fukunaga zeigt das Gang-Milieu ungeschminkt und brutal, die Flucht dafür in oft schönen Bildern, manchmal nahe an Postkartenpanoramen. Die atemberaubenden Bilder der vorüberziehenden Landschaften stehen in Kontrast zum Elend auf dem Zugdach.

    Mit dieser ebenso klugen wie eingängigen Mischung hat der 1977 geborene New Yorker Regisseur gewiss eine große Zukunft vor sich.