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Die erste Rede eines russischen Präsidenten im Deutschen Bundestag

Seit zwei Jahren führte Putin Krieg in Tschetschenien, als er kurz nach dem 11. September 2001 als erster russischer Präsident im Deutschen Bundestag sprach. Er nahm die Anschläge von New York und Washington zum Anlass, um seine brutale Politik in der abtrünnigen kaukasischen Teilrepublik zu rechtfertigen.

Von Rolf Wiggershaus |
    "Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Doch bin ich einfach der Meinung, dass Europa sicher und langfristig den Ruf eines mächtigen und real selbstständigen Mittelpunkts der Weltpolitik festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen, mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird."

    Fast ein halbe Stunde dauerte die Rede, die Wladimir Putin am 25. September 2001 als erster russischer Präsident vor dem Deutschen Bundestag hielt. Man erfüllte damit einen Wunsch des Staatsgastes. Nach kurzem Beginn auf Russisch fuhr er auf Deutsch fort. Das hatte er gelernt, als er in den letzten Jahren der DDR als Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes in Dresden eingesetzt war. Nun trug er in der – wie er sagte – "Sprache von Goethe, Schiller und Kant" seine Ansichten zu den deutsch-russischen Beziehungen, zur Entwicklung Russlands und des vereinigten Europas und zum Problem der internationalen Sicherheit vor. Dies letzte Thema bildete den aktuellen Anknüpfungspunkt seines Werbens für russische Positionen.

    "Die Welt befindet sich auf einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf dem Kontinent nie ein Vertauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich. Heute sind wir verpflichtet zu sagen, dass wir unsere Stereotypen und Ambitionen loswerden, um der Bevölkerung Europas und der ganzen Welt Sicherheit zusammen gewährleisten."

    Zwei Wochen zuvor, am 11. September, hatten die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon die Verwundbarkeit der Supermacht USA deutlich gemacht. Als einer der ersten hatte der russische Präsident seinem US-amerikanischen Kollegen George W. Bush Solidarität im Kampf gegen den Terror zugesichert. In seiner Rede in Berlin nahm er nun die Anschläge in den Vereinigten Staaten zum Anlass, dem Unabhängigkeitskampf der Tschetschenen eine analoge Bedeutung zuzuschreiben.

    "Religiöse Fanatiker, nachdem sie die Macht in Tschetschenien ergriffen haben und einfache Bürger zu Geiseln gemacht haben, begannen sie einen unverschämten, großräumigen, bewaffneten Angriff auf die benachbarte Republik Dagestan. Internationale Terroristen haben offen, ganz offen, ihre Absichten über die Erschaffung eines neuen fundamentalistischen Staates zwischen dem Schwarzen und Kaspischen Meer angekündigt."

    Seit zwei Jahren führte Putin einen brutalen Krieg gegen die abtrünnig gewordene nordkaukasische Teilrepublik. In Russland hatte die Demonstration militärischer Handlungsfähigkeit den einstigen Geheimdienstchef rasch populär gemacht. Der Europarat allerdings hatte Sanktionen gegen Moskau verhängt. Nach den Anschlägen vom 11. September nutzte Putin die Gunst der Stunde für eine außenpolitische Offensive: für Russlands Rückkehr auf die weltpolitische Bühne als international respektierter und auf Augenhöhe mit den USA handelnder Akteur.
    Die Unterstützung des Kanzlers der rot-grünen Koalitionsregierung, Gerhard Schröder, war ihm dabei sicher. Noch vor Putins Rede im Deutschen Bundestag präsentierten die beiden sich gemeinsam auf einer Pressekonferenz und riefen zum energischen Kampf gegen den Terrorismus auf. Schröder betonte bei dieser Gelegenheit:

    "Ich habe gemeint, dass es in bezug auf Tschetschenien zu einer differenzierteren Bewertung der Völkergemeinschaft kommen muss und sicher auch kommen wird."

    Statt Kritik erlebte der russische Präsident am Ende seiner deutschen Ansprache stehenden Applaus.
    Der vom Kanzleramt selbstbewusst verkündete "Schulterschluss Russlands, der EU und der USA" gedieh nicht weit. Spätestens der von Bush junior im Oktober 2003 begonnene zweite Irak-Krieg machte deutlich, dass es höchst unterschiedliche Vorstellungen über die Ziele des Antiterrorkampfes gab. Die von Putin und Schröder beschworene besondere deutsch-russische Beziehung aber erwies sich als beständig. Die Stagnation der EU begünstigt die von Moskau betriebene Politik eines "selektiven Bilateralismus" mit den großen EU-Staaten, allen voran Deutschland. Dieser "strategische Partner" hat sich offenbar damit abgefunden, dass Moskau sich Lektionen in Sachen Demokratie verbittet, aber gleichzeitig als Gaslieferant und "Energiesupermacht" Anerkennung verlangt.