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Die Geschundenen des Empire

"Die Menschheit ist zweigeteilt, in Herren und Sklaven", dekretierte Aristoteles, und Adam Smith erklärte, rund zweitausend Jahre später: "Die Sklaverei abzuschaffen, wird kaum möglich sein. Sie ist seit dem Beginn der Gesellschaft überall anzutreffen, und die Liebe zu Herrschaft und Autorität über andere Menschen wird sie wahrscheinlich unvergänglich machen." Soweit Adam Smith, 1763, mitten in der Aufklärung, kurz vor der Erklärung der Menschenrechte, in den USA und in Frankreich.

Von Martin Ebel | 21.08.2008
    Liberté, égalité, fraternité: Schwarze Sklaven waren damit nicht gemeint. Sie galten nicht wirklich als Menschen, und, was schwerer wog: Sie galten als unverzichtbar für das Wirtschaftssystem der großen Mächte, so unverzichtbar wie heute das Auto. Ohne Sklavenarbeit, davon waren alle Zeitgenossen überzeugt, würde die Weltwirtschaft zusammenbrechen.

    Die Sklaven der Kolonialmacht England - und um sie geht es in Adam Hochschilds Buch - arbeiteten vor allem auf den Zuckerrohrplantagen der karibischen Inseln. Die Lebensbedingungen auf den Zuckerfarmen waren mörderisch, es ist nicht übertrieben, von "Vernichtung durch Arbeit" zu sprechen. "Die Karibik war ein Schlachthaus", schreibt Hochschild, und das Schlachthaus brauchte unentwegt Nachschub. Der kam mit Sklavenschiffen über die so genannte Middle Passage. Ein beträchtlicher Teil starb schon auf der Fahrt.

    Sklavenarbeit und Sklavenhandel: Das war für die Zeitgenossen kein Skandal, sondern eine Selbstverständlichkeit. Und dennoch schaffte es eine Gruppe engagierter englischer Bürger, in ganz wenigen Jahren einen Bewusstseinswandel herbeizuführen und - das dauerte dann etwas länger - die Sklaverei im britischen Herrschaftsbereich ganz abzuschaffen. Der vielfach preisgekrönte amerikanische Publizist Adam Hochschild erzählt in seinem Buch "Sprengt die Ketten" von ihrem Feldzug, der mit Kühnheit, Phantasie und Hartnäckigkeit geführt wurde, aus einer anfangs hoffnungslosen Position. Ihre Protagonisten - so Hochschilds überzeugend belegte These - haben dabei vor allem auf die Öffentlichkeit als Machtfaktor gezielt und dabei einen Grossteil jener Instrumente entwickelt, deren sich auch heute noch jede Gruppe bedient, die ein politisches Ziel verfolgt, seien es Lobbyisten oder Menschenrechtsaktivisten.

    Der Kampf beginnt 1787 mit einem Treffen von zwölf ehrenwerten Herren in einer Londoner Druckerei. Unter ihnen ist Thomas Clarkson, ein noch junger Theologe. Er hatte mit einer Abhandlung gegen die Sklaverei, natürlich in lateinischer Sprache, einen Wettbewerb der Universität Cambridge gewonnen und die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Quäkern erregt, die sich schon länger gegen den Sklavenhandel wandten, aber als Aussenseiter in der anglikanisch dominierten Gesellschaft nicht viel zu sagen hatten. Sie übersetzten Clarksons Schrift, druckten sie und fanden weitere Mitstreiter.
    Einer war Granville Sharp, ein vielfältig begabter Musiker, Teil eines Familienorchesters, das auf einem Musikschiff auf der Themse spielte. Sharp war ein typisch englischer Exzentriker, aber auch praktisch und mutig; er hatte mehrfach entlaufene Sklaven vor Gericht verteidigt und sich dadurch einen besonderen Ruf erworben. Unterstützung kam auch von John Newton, der einst jahrelang als Kapitän von Sklavenschiffen die Atlantikroute gefahren war, später aber in sich ging, anglikanischer Pastor wurde und erfolgreiche Hymnen verfasste, darunter das bis heute äusserst populäre "Amazing Grace". Ebenfalls dabei war Olaudah Equiano, ein ehemaliger Sklave, der sich freikaufen konnte, ein äusserst wertvoller Zeuge. Er schrieb seine Lebensgeschichte nieder, rührte damit die Herzen Tausender, machte das Buch zum Bestseller und seine Leser zu begeisterten Abolitionisten, also Befürwortern der Abschaffung der Sklaverei.

    Zum wichtigsten Alliierten der Gruppe wurde der Unterhausabgeordnete William Wilberforce, ein charismatischer Redner, der die vierzig Jahre seines politischen Lebens dem Kampf gegen die Sklaverei widmete. Er war auch eine dickenssche Figur, nach dem Urteil der Madame de Staël "der geistreichste Mann Englands", zugleich von unbändiger Heiterkeit und gequält von wirklichen oder vermeintlichen Sünden, die er begangen haben wollte. Das Zusammentreffen und Zusammenwirken von Clarkson und Wilberforce nennt Hochschild "eine der grossen Allianzen der Geschichte".
    Wilberforce agierte parlamentarisch - schwierig genug, da zahlreiche Abgeordnete Plantagen in der Karibik besassen oder auf andere Weise mit der Sklavenwirtschaft verquickt waren -, Clarkson und seine Freunde ausserparlamentarisch. Ihre Mittel: Petitionen mit Tausenden von Unterschriften, Flyer und Poster, öffentliche Debatten und Hearings, Statistiken und Zeugnisse, Slogans und Logos, ganz wie heute. Sogar den Konsumentenboykott entdeckte die Gruppe als wirksame Waffe, ein Mittel, das heute selbst multinationale Konzerne zu fürchten gelernt haben. Zu Hunderttausenden verzichteten Engländer jahrelang auf den Zucker in ihrem Tee, um die Gewinne der Plantagenbesitzer zu schmälern.

    Clarkson verbrachte einen Großteil seiner Zeit zu Pferde; er durchstreifte England, etwa um Matrosen aufzuspüren, die über die grässlichen Zustände auf den Transportschiffen Auskunft geben konnten; er kaufte Fußfesseln, Peitschen und Daumenschrauben, mit denen die Schwarzen "behandelt" wurden, und führte sie als Demonstrationsobjekte in Englands Städten vor. England war ein gutes Pflaster für eine solche Kampagne - es war im Wortsinne gepflastert, hatte also gute Strassen, auf denen überall Postpferde warteten; es gab zahlreiche Zeitungen, die keiner Zensur unterstanden, es gab Kaffeehäuser und Debattierclubs, also avancierte Formen von Öffentlichkeit.
    Thomas Clarkson, Granville Sharp und ihren Mitstreitern war klar, dass man diese Öffentlichkeit nicht nur überzeugen, sondern vor allem rühren musste. Das taten sie mit der pathetischen Schilderung tragischer Einzelschicksale, mit der Demonstration der alltäglichen Gräuel - alltäglich, aber für Englands Konsumenten eben weit weg. Sie setzen auch auf die Macht der Bilder. Fotos gab es ja noch nicht, aber die Grafik eines vollgepackten Sklavenschiffes wurde tausendfach reproduziert und bewirkte wahrscheinlich mehr als Dutzende von Pamphleten, mit denen die Abolitionisten das Parlament bombardierten.

    Hochschild ist ein glänzender Erzähler, aber er hat auch viele Regalmeter wissenschaftlicher Literatur ausgewertet, ohne sein Buch damit zu beschweren. Zu dessen Stärken gehören die zahlreich angeführten Stimmen der Beteiligten - Täter, Opfer und Zeugen. Reich ist das Quellenmaterial, aber man muss mit dem Reichtum auch umgehen können. Hochschild kann es: Sein Buch ist enorm spannend und berührend; aber von jener 200 Jahre zurückliegenden Kampagne können Menschenrechts-, Umwelt- wie Klimaaktivisten unserer Zeit auch eine Menge lernen: Ein "aussichtslos" darf es nie geben.

    Dass schon 1792 das erste Gesetz gegen den Sklavenhandel verabschiedet wurde (das Oberhaus blockierte allerdings seine Umsetzung), dass 1807 dieser Handel und 1831 endlich auch die Sklavenhaltung in der Karibik verboten wurde: Das ist noch einer ganzen Reihe anderer Faktoren zu verdanken. Unter anderem den Schwarzen selbst, die sich immer wieder gegen ihre Unterdrücker erhoben, ihnen empfindliche Niederlagen zufügten und letztlich die Sklavenwirtschaft unrentabel machten. Der entscheidende Anstoß aber war von einigen wenigen Individuen gekommen, denen es gelang, gegen Vorurteile und ökonomische Interessen der Weltgeschichte eine neue Wendung zu geben. Sie setzten dabei auf eine dem Egoismus hoffentlich gleichwertige Kraft im Menschen: seine Fähigkeit zur Empathie, also der Teilnahme am Leiden anderer und dem Verlangen, diesem Leiden ein Ende zu machen.

    Adam Hochschild: Sprengt die Ketten
    Der entscheidende Kampf um die Abschaffung der Sklaverei

    Klett-Cotta, 2007, 503 Seiten, 26,50 Euro