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Die Globalisierung und ihre Gegner

Vor genau einem Jahr ist ein Buch erschienen, das keinen geringeren Anspruch hat, als das kommunistische Manifest unserer Zeit zu sein. Seitdem hat sich ein Netzwerk von Lesezirkeln und Diskussionsgruppen herausgebildet, das die Thesen von Michael Hardt und Toni Negri zur Globalisierung für eine politische Praxis nutzbar zu machen versucht. Im Mittelpunkt dieses Buches, dessen Titel »Empire« aus guten Gründen für die deutsche Ausgabe nicht mit »Reich« übersetzt wurde, steht die Diagnose, dass das gegenwärtige globale Machtgefüge im Unterschied zu den Zeiten des Imperialismus kein Zentrum mehr hat.

Leander Scholz | 06.06.2003
    Auch wenn man derzeit das Gefühl haben kann, dass sich die einzig verbliebene Supermacht USA als genau dieses Zentrum verstehen mag, so hat diese Diagnose doch einiges für sich und gründet nicht zuletzt in den Organisationsprinzipien der digitalen Vernetzung. Wie man weiß war das Internet von den Strategen des Pentagons von Anfang an polyzentrisch konzipiert, um als Informationsnetzwerk im Falle eines Notstandes wenig Angriffsfläche zu bieten. Heute kann man sagen, dass die Netzmetaphorik auf allen Gebieten des intellektuellen und sozialen Lebens sich erfolgreich durchgesetzt hat und für viele Bereiche von der individuellen Lebensgestaltung bis hin zur Struktur von Texten mehr als nur eine Selbstbeschreibung darstellt.

    Was sich euphorisch als Dezentralisierung und Enthierarchisierung feiern lässt, vollzieht sich im Konkreten allerdings häufig genug als eine schmerzhafte soziale Dissoziation, die Hardt und Negri in ihrem Buch mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts verglichen haben. Nur dass die Dissoziation des informatischen Zeitalters nicht nur die Rhythmen des alltäglichen Lebens reorganisiert, sondern ebenfalls die Sphäre der immateriellen Produktion durchdringt, den Bereich der Gefühls- und Sinnproduktion sowie der Sprache, also alles das, was man unter dem tertiären Markt der Dienstleistungen zusammenfasst.

    Diese weit gehende globale Enteignung, und das ist die Pointe der Argumentation von Hardt und Negri, muss bis hin zur Biopolitik Bereiche in die Produktion einbeziehen, die letztendlich schwer zu kontrollieren sind und zwangsläufig neue Produktionsformen freisetzen, wie sie sich etwa in den favorisierten »Teams« und dem Stichwort von der »Sozialkompetenz« ausdrücken. Mit diesen neuen dezentralisierten Produktionsformen in allen Schichten der Gesellschaft sehen Hardt und Negri zugleich die Möglichkeit einer Gegenmacht zur Herrschaft des »Empires« gegeben. In der marxistischen Theorietradition stehend, beantworten die beiden Autoren damit die Frage nach dem revolutionären Subjekt, das die Protestbewegungen der 70er Jahre noch in den Befreiungsbewegungen der »Dritten Welt« ausgemacht hatten.

    Eine zentrale Rolle für die Konstitution dieser Gegenmacht spielen die zahlreichen so genannten Nicht-Regierungs Organisationen, deren Einfluss und Aktivitäten in den gegenwärtigen Szenen des Politischen schwer einzuschätzen und zu beschreiben sind. Klar ist letztlich nur, dass damit ein Akteur auf den Plan getreten ist, der sich weder systemtheoretisch noch mit der klassischen Repräsentationslehre fassen lässt. Sie entspringen weder einem funktionalen Teilbereich der Gesellschaft, noch sind sie durch eine demokratische Wahl legitimiert. Wessen Interessen sie tatsächlich vertreten, ist nicht einfach auszumachen. Dass sie eng mit dem zusammenhängen, was man mangels anderer sozialer Termini eine »Bewegung« nennt, sagt mehr über ihre Organisationsstruktur aus, als das scheinbar selbstverständliche Wort nahe legt.

    Als »Bewegung« entziehen sie sich dem Institutionellen, in dem sich das politisch-rechtliche Denken der Moderne kristallisiert hat. Zugleich lassen sie sich nicht einfach auf einen »Protest« reduzieren, weil sich ihre »Bewegung« schon längst von dem jeweiligen Anlass des Protestes entfernt und verselbständigt hat. Hardt und Negri haben deshalb den Entwurf eines nomadischen Subjekts bemüht, wie ihn Gilles Deleuze und Félix Guattari entwickelt haben, um die Struktur und die Organisation dieser »Bewegung« angemessen beschreiben zu können.

    Systemtheoretisch könnte man sagen, dass diese »Bewegung« sich deshalb nicht mit einem Teilsystem der Gesellschaft verrechnen lässt, weil sie eine Art permanente Durchdringung der Teilsysteme darstellt. Der Begriff der »Bewegung« scheint deshalb weiter gefasst werden zu müssen, als ein politisches Ziel betreffend. Er trägt einen existenziellen Zug. So verwundert es denn auch nicht, dass das zukünftige »Subjekt der Geschichte« bei Hardt und Negri schlicht die »Menge« heißt. Es geht also um eine intendierte Formlosigkeit, die darüber hinaus die traditionelle Organisation der Gegenmacht in Gewerkschaften und politischen Parteien grundsätzlich in Frage stellt.

    Genau gegen diesen existenzialistischen Zug im gegenwärtigen Aufkommen neomarxistischer Strömungen tritt das neue Buch von Claus Leggewie an. Auch im Zentrum seiner Überlegungen steht die Rolle der Nicht-Regierungs Organisationen auf dem Weg zu einer Weltbürgerschaft. Im Gegensatz zu Hardt und Negri setzt er dabei jedoch auf eine rechtsbürgerliche Tradition, die man am besten mit Kants Schrift Zum ewigen Frieden benennen kann. Schon Kant hatte gehofft, dass mit der Einsetzung einer internationalen Vertragssituation der zwischenstaatliche »Naturzustand« und damit viele Konfliktfälle beseitigt werden könnten. Die Wirkung dieser Schrift lässt sich bis hin zur Entstehung des modernen Völkerrechts verfolgen. Wie man anhand der aktuellen internationalen Entwicklungen allerdings ebenso leicht verfolgen kann, ist dieses Völkerrecht extrem abhängig von den nationalen Mächten, die es durchsetzen bzw. seine Anwendung verhindern können.

    Natürlich glaubt auch Leggewie nicht, mit der Schaffung einer internationalen Gerichtsbarkeit sei es schon getan. Denn ein internationaler Gerichtshof kann nur erfolgreich sein, wenn die Nationalstaaten zumindest einen Teil ihrer Souveränitätsrechte abgeben. Leggewie geht es nicht um einen Weltstaat, sondern um eine Weltgemeinschaft mit föderativem Zuschnitt, die er für ein durchaus realistisches Ziel hält. Gemäß dem Titel seines Buches Die Globalisierung und ihre Gegner liest sich deshalb der erste Teil wie eine Einführung in das, was bisher geschah.

    Zunächst ist ihm daran gelegen, das Phänomen der Globalisierung, das man seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts beobachten kann, nicht ausschließlich ökonomisch zu deuten. In weiten Strecken handelt es sich ebenso um eine kommunikative und kulturelle Globalisierung, die sich nicht als Hegemonie einer einzigen Kultur – etwa der nordamerikanischen – begreifen lässt, sondern vielmehr eine kulturelle Hybridisierung freisetzt, wie es sich in den Kulturwissenschaften häufig theoretisiert findet. Anschaulich beschreibt Leggewie, der selbst als »teilnehmender Beobachter« und als aktiver Politikberater in der globalisierungskritischen Bewegung Attac engagiert ist, wie die großen transnationalen Diskussionsforen der Gegengipfel eine Art Weltöffentlichkeit »von unten« hervorbringen, die neben einer internationalen Gerichtsbarkeit sicher ein weiterer wichtiger Pfeiler einer föderativen Weltgemeinschaft darstellt. Aufbauen könnte diese Weltgemeinschaft auf den vorhandenen transnationalen Institutionen von IWF bis WTO, die sich bislang allerdings eher im Zementierung von weltweiten Asymmetrien hervorgetan haben. Umstritten unter den Globalisierungskritikern ist deshalb, ob es sinnvoller ist, diese demokratisch umzufunktionieren oder eigene Institutionen aufzubauen.

    Was sich scheinbar als eine rein strategische Frage darstellt, ist tatsächlich jedoch eine sehr grundsätzliche. Während die Gipfeltreffen der nationalen Volksvertreter zumindest teilweise als Repräsentanten legitimiert sind, erscheinen die Nicht-Regierungs Organisationen als pressure groups , die im Namen unterschiedlichster Interessen sprechen, die sie selbst nicht offen legen müssen. Weder ist ihre innere Struktur demokratisch verfasst, noch sind sie als Vertreter irgendwann gewählt worden. Bezweifelt werden darf deshalb, ob sie überhaupt demokratische Effekte zeitigen. Als Bewegungen operieren sie in einem Schwellenbereich, der selbst keiner Kontrolle mehr zugänglich ist.

    Diese geheimbündlerische Tendenz scheint auch Leggewie unheimlich zu sein. Deswegen mahnt er im zweiten Teil seines Buches eine demokratische Bringschuld der Nicht-Regierungs Organisationen an, die über eine traditionelle Repräsentativverfassung hinausgehen und entlang der digitalen Kommunikationsmöglichkeiten sogar neue Standards einer demokratischen Partizipation jenseits der Territorialstaaten setzen könnten. Zugleich weist Leggewie damit den seit den 70er Jahren stets schlagkräftiger werdenden Bewegungsformen im politischen System selbst nur eine Übergangsfunktion zu. Ihr Potential und ihre Kreativität soll nämlich letztlich einer Reformierung des in die Krise geratenen Turbokapitalismus dienen – eine Position, die sich inzwischen auch bei ökonomischen Hardlinern finden lässt. Längst rekrutieren internationale Gremien ihren Nachwuchs gerade aus den Eliten solcher Bewegungen, die eigentlich in einer Feindschaft zu ihnen stehen müssten. Auch Gewerkschaften und Parteien haben inzwischen etwa in »Attac« ein gutes Nachwuchspotential entdeckt. Aber selbst, wenn solche Integrationsbemühungen Erfolg haben sollten, stellt sich die Frage, ob damit das Auftreten und die Funktion dieser »Bewegungen« angemessen erfasst wird.

    Im Unterschied zu Parteien oder anderen politischen Organen lassen sich »Bewegungen« nicht leicht »von oben« disziplinieren. Im Notfall spalten sie sich einfach und finden genau durch diese Spaltung zu neuen Energien. Insofern kann man keineswegs von einem Übergangsphänomen sprechen. Hinzu kommt, dass »Bewegungen« sich nicht ausschließlich durch ihr Ziel definieren, sondern vor allem durch den Grad ihrer dezentralen Organisationsstruktur auszeichnen, was nicht zuletzt ihre Attraktivität ausmacht, die wiederum in der Sozialstruktur einer »Bewegung« begründet ist. Sie korrespondieren damit einer neuen Subjektivität, wie sie sich erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat und die immer weniger auf stabile Muster der Identitätsbildung zurückgreifen kann und mit recht postmodern genannt wird.

    Insofern werden »Bewegungen« stets inkompatibel sein mit der rechtsbürgerlichen Tradition der Aufklärung, die Leggewie ihnen anheim stellen will. Wenn man sich die historische Entwicklung der modernen bürgerlichen Souveränitätsdemokratien genauer vor Augen führt, scheint es auch fraglich zu sein, sie im Sinne einer Weltverfassung weiterschreiben zu wollen, ohne eine Reflexion auf die enormen Probleme und Exklusionen der rechtsbürgerlichen Tradition vorzunehmen. Vielleicht lässt man sich in Europa allzu leicht von dem Vorbild einer Europäischen Union im Weltmaßstab verführen. Zumal es schwer vorstellbar ist, dass die großen Nationalstaaten oder Verbünde von Nationalstaaten tatsächlich gegen ihre Interessen irgendwelche Souveränitätsrechte an eine höhere Instanz abgeben werden. In der Geschichte gibt es bisher noch kein Beispiel, dass sich eine solche konstitutive Macht ohne einen gewalttätigen Konflikt etabliert hätte. Wo Hardt und Negri vielleicht ein bisschen zu spekulativ sind, fällt Leggewies Resümee zur Globalisierungsdiskussion allzu pragmatisch aus.

    Wollte man zum Verständnis der neuen Bewegungsformen nach historischen Analogien suchen, so wird man vor allem auf die Geschichte der christlichen Sekten eingehen müssen, denen sich in unterschiedlichsten historischen Entwicklungsstufen striktere Organisationen wie die katholische Kirche oder später der moderne Souveränitätsstaat entgegen gestellt haben. Dabei wird man feststellen, dass die neuen sozialen Bewegungen einen Untergrund beerben, der sich trotz der Verrechtlichung des Sozialen in der europäischen Geschichte immer durchgehalten hat. Fraglich ist es deshalb, ob man diese Bewegungsformen auf eine aufklärerische Tradition eichen kann oder ob man nicht aus guten Gründen genau mit dieser brechen muss. Insofern macht es sich Leggewie zu einfach, wenn er den existentialistischen Zug bei Hardt und Negri als »messianischen Kitsch« bezeichnet und mit den Worten von Alan Wolf einer »sektiererischen Paranoia« zurechnet. Gerade an diesen scharfen Ablehnungen lässt sich besonders deutlich ablesen, dass Hardt und Negri ein neues Element des aktuellen politischen Diskurses herausgearbeitet haben, das sich mit dem traditionellen Vokabular der Politikwissenschaft nicht leicht beschreiben lässt. Leggewies Beitrag gibt zwar einen guten Einblick in die unterschiedlichen Lager der Globalisierungskritiker, ein neues Element bringt er aber nicht in die Debatte.