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Die goldene Bulle

Mit mittelalterlichen Schalmeien wurden die geladenen Wissenschaftler gleich zu Beginn von der Truppe Alta Musika auf sinnlich auf die Tagung eingestimmt. Die Musik führt zurück an den Hof Kaiser Karls IV., der 1356 ein Gesetzeswerk beurkundete, das von da an 450 Jahre gelten sollte.

Von Bettina Mittelstraß |
    Michael Menzel: "Die Goldene Bulle wird immer sehr vollmundig als die Verfassung des alten Reiches genannt. Es ist zweifellos eine der wichtigsten Verfassungsurkunden, die wir haben. Die Inhalte sind eigentlich schnell umrissen. Es geht im Kern um die deutsche Königswahl, dass also die berühmten sieben Kurfürsten des Reiches als die Wähler des Königs festgelegt werden, und es wird eben ein Abstimmungsmodus festgelegt: die Mehrheit, das heißt vier Kurfürsten mindestens, entscheiden über eine gültige Wahl. "

    Durch die goldene Bulle wurde ein ständiger Streit von Gegenkönigen im 13. und 14. Jahrhundert beendet und eine Regelung herbeigeführt, die konsensfähig war, so der Historiker und Gastgeber der Tagung Professor Michael Menzel:

    "Das hat einfach gehalten. Und die sieben bevorrechtigten Kurfürsten haben natürlich sehr darauf geachtet, dass daran nicht mehr gerüttelt wurde, sondern sie waren jetzt das etablierte Gremium, die "Königsmacher", und das haben sie sich nicht wieder nehmen lassen."
    Michael Menzel leitet die Berliner Arbeitsstelle der "Monumenta Germaniae Historica", kurz MGH genannt. Hinter diesem Titel verbirgt sich ein Editionsvorhaben, das schon seit 1819 an einer Gesamtausgabe aller überlieferten Quellen des Mittelalters arbeitet. An der Akademie in Berlin beschäftigt man sich dabei mit spätmittelalterlichen Urkunden, Tausenden an der Zahl. Eine davon ist die goldene Bulle, deren präzise aufgearbeiteter Inhalt jetzt sogar im Internet nachzulesen ist! Professor Menzel ist es wichtig, diese Arbeit gegenüber der Öffentlichkeit von einem verstaubten Image zu befreien.

    "Der Gedanke der Tagung ist eigentlich, nicht von verschiedenen Forschungsaspekten auszugehen, sondern von einem Text auszugehen: Was sagt uns dieser Text, wenn man ihn nach allen Richtungen hinterfragt? Wie steht er in seiner historischen Gegenwart damals?"
    Und wie wirkt er noch heute? Der Blick zurück in die politische Praxis des Spätmittelalters zeigt anhand der Goldenen Bulle, dass man sich hier keine Gesetzeswirksamkeit wie heute vorstellen darf. Die handschriftliche, gebundene Urkunde mit dem goldenen Sigel, dem sie ihren Namen verdankt, war anfangs kein allgemein gültiges Gesetz, so der stellvertretende Leiter der Berliner Arbeitstelle, Dr. Michael Lindner:

    "Es war ein Privileg. Und das heißt eigentlich: Ein Aussteller gibt einem Empfänger Sonderrechte, die alle anderen Fürsten zum Beispiel nicht haben. Dieser Privilegien dürfen sich wirklich nur die Empfänger erfreuen. Die nehmen dann diese Urkunde mit dem goldenen Sigel unten dran mit nach Hause, legen sie in den Schrank, und dort liegt se dann."
    Und nicht einmal Kaiser Karl IV. bestand darauf, die in der Urkunde festgelegten Regeln auch anzuwenden.

    "Die erste Gelegenheit, dieses Privileg zu einem wirklich reichsweiten Gesetz zu machen, war eigentlich die Königswahl seines Sohnes Wenzel. Da hätte er dafür sorgen können - und eigentlich auch müssen, nach unseren heutigen Vorstellungen - dass die Vorschriften, die er in der Goldenen Bulle niedergelegt hat, auch wirklich angewandt werden. Und genau das hat er dann zur Wahl seines Sohnes nicht gemacht, weil er offenbar der Meinung war, er muss den Kurfürsten entgegenkommen, damit sie seinen Sohn wählen, und dafür aber im Gegenzug auf bestimmte Vorschriften verzichten."

    Borgolte: "Wir verlangen ja von einem Gesetz, dass es sofort angewendet wird, während in der Vormoderne bis zur Zeit des 17. Jahrhunderts hinein, Gesetze sehr wohl relativiert werden konnten. Wenn die Umstände sich anders dargestellt haben, als der Gesetzgeber sich ursprünglich vorgestellt hat, war man durchaus bereit ohne irgendwelche schlechten Gewissen zu haben, die Anwendung des Gesetzes auszusetzen oder das Gesetz gegen seinen eigenen Sinn zu interpretieren."
    Professor Michael Borgolte, Historiker an der Humboldt Universität Berlin. Trotz der gewissen Beliebigkeit in der Anwendung entfaltete die Goldene Bulle nach 1400 auf Dauer eine enorme Wirkung. Das war kein Widerspruch im Mittelalter. Inhalt und prinzipielle Gültigkeit der Bulle wurden 450 Jahre lang nicht in Frage gestellt und weitgehend umgesetzt. Diese Stabilität in einem Reich, das sich aus den unterschiedlichsten Fürstentümern zusammensetzte, beeindruckt. Vor dem aktuellen Hintergrund der Europäischen Einigungsbemühungen ist der Blick auf diese Urkunde daher bis heute von hohem Interesse für die Forschung.

    "In anderen europäischen Ländern wurden diese Fundamentalgesetze ständig verändert, weil bei jedem Herrschaftswechsel Konzessionen seitens der Kandidaten gemacht werden konnten, sofern ein Wahlrecht vorlag. Im deutschen Reich war das aufgrund der Goldenen Bulle nicht möglich, weil die Goldene Bulle mit großem Erfolg den Wahlmodus festgeschrieben hat."

    Die Goldene Bulle sorgte damit einerseits für eine erstaunliche Beständigkeit des Reiches. Andererseits verhinderte sie auch die Fortentwicklung politischer Strukturen, die in anderen Ländern durch die Veränderbarkeit der Regelwerke zum Beispiel den Weg zum Parlamentarismus ebnete.

    "Man kann eben sehen, dass die Goldene Bulle in der Geschichte der Nationalstaaten eine Sonderrolle gespielt hat. Das heißt, in der Geschichte Europas gab es immer verschiedene Wege, die in die Zukunft geführt haben, und wir brauchen die Nationalstaaten gar nicht diskreditieren, sie haben ihre wichtige Rolle in der Geschichte gespielt, aber sie haben auch andere Wege verstellt wie das Modell des Reiches, wo übernationale staatliche Organisation möglich gewesen ist. Insofern liegt in der Beschäftigung mit der Goldenen Bulle die Chance, Alternativen in der Geschichte zu erkennen, die Mittelalter gegeben waren, und die in der Gegenwart - in ganz anderer Form natürlich, wir wollen die EU nicht mit dem Reich identifizieren - wiederum möglich sind."

    Interessant an der Goldenen Bulle sind schließlich ihre zahlreichen Regeln zu Inszenierung des Reiches. Nicht erst heute ist es für die Politik mitentscheidend, wie man sie medial präsentiert. Handschläge zwischen Staatsmännern sind Ereignisse im Blitzlichtgewitter, weil das Bild eine einfache Aussage transportiert. Der Heidelberger Historiker Professor Bernd Schneidmüller:

    "Auf die relativ einfache Frage "was ist das Reich?" hätte das Mittelalter eine ganz komplizierte Antwort geben müssen, die nur von den wenigsten Menschen verstanden worden ist. Also führt man das Reich auf. Die Goldene Bulle hat ganz viel Platz für diesen Aufzug des Reichs, für die Rituale verwandt, um zu zeigen, wie das Ensemble funktioniert. Rituale sind kein Theater. Sie werden nicht gemacht, damit ein König seine dummen Untertanen gleichsam bei der Stange hält, sondern sie sind Ausweis einer Kultur. Wir sind vielleicht heute wieder eher als vor 20 Jahre in der Lage, die Bedeutung dieser Rituale zu begreifen. Unsere jungen Leute, ich merk das im Umgang mit Studenten, schauen ganz genau auf solche Kleinigkeiten, die uns als Kleinigkeiten anmuten, die aber ganz wichtig sind. Und deshalb erkennen wir Historiker neuerdings, dass die Bedeutung dieser Rituale über die Jahrhunderte eigentlich immer gleich geblieben ist, aber dass sich die Formen entscheidend gewandelt haben."