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"Die israelische Gesellschaft ist erpressbar"

Shimon Stein bezweifelt, das ein direkter Zusammenhang zwischen der Befreiung und der Wiederaufnahme von Friedensgesprächen bestehe. Denn "nach der Befreiung ist vor der nächsten Entführung", so der der frühere israelische Botschafter in Berlin.

Shimon Stein im Gespräch mit Friedbert Meurer | 18.10.2011
    Friedbert Meurer: Es ist seit Tagen das große Thema in Israel und auf der Westbank und in Gaza. Der 2006 entführte Gilad Shalit kommt endlich frei. Im Gegenzug entlässt Israel knapp 500 Palästinenser aus der Haft. In einem zweiten Zug werden noch einmal so viele nachfolgen. Zug um Zug also erfolgt der Austausch zwischen Israelis und Palästinensern, oder einer gegen 1.000, Shalit gegen 1.000 palästinensische Häftlinge. Manchen in Israel ist der Preis zu hoch gewesen.
    Am Telefon begrüße ich Shimon Stein, er war israelischer Botschafter in Berlin, dort erreichen wir ihn jetzt auch. Er ist jetzt Senior Fellow am Institut für nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv. Guten tag, Herr Stein!

    Shimon Stein: Guten Tag, Herr Meurer!

    Meurer: Was bedeutet denn diese Freilassung heute von Gilad Shalit für Ihr Land?

    Stein: Zunächst für die Familie Gilad Shalit, die ihren Sohn 1941 Tage nicht gesehen hat, eine große Freude. Gleichzeitig muss man in der Lage sein, zwischen den Emotionen der Familie und der Interessenlage Israels zu unterscheiden, und hier muss ich sagen, wenn wir in der Region agieren - und da sind wir in der Region und wir sprechen ja immer über die Wahrnehmung der Region, der Schwäche, der Stärke -, hier, glaube ich, hat sich Israel keinen guten Eindruck erwiesen, eine Erpressbarkeit, eine Kapitulation vor dem Terror.

    Meurer: Also Sie sind gegen diese Form des Gefangenenaustauschs?

    Stein: Ich sage nur, man muss in der Lage sein, zwischen der persönlichen Freude einer Familie und der Interessenlage des Landes zu unterscheiden, und ich muss sagen, wenn man die Interessen der Lage abwägt, und die Frage ist, wer hat gewonnen, wer hat verloren, ich muss sagen, dass das eigentlich ein eindeutiger Sieg auch für die Hamas heute ist. Ja, sie haben ja nicht alle zurückbekommen, aber in der Region leider gilt, nach der Befreiung ist vor der nächsten Entführung. Man hat gesehen, dass es einen Weg gibt, die israelische Gesellschaft ist erpressbar, und insofern, glaube ich, ist das letzte Wort in Sachen Entführung und Befreiung noch nicht gesprochen.

    Meurer: Wie hätten Sie denn entschieden? Hätten Sie gesagt, es gibt überhaupt keinen Gefangenenaustausch, oder sind die falschen palästinensischen Häftlinge ausgesucht worden?

    Stein: Das sind nicht die falschen. Wissen Sie - wir haben noch im Gefängnis über 6000. Das sind ja eigentlich nicht unschuldige Menschen, die ja mit Recht hingerichtet worden sind und im Gefängnis auch sitzen, weil sie Blut auf ihren Händen haben, und es war für Israel ein Tabu, dass man A mit Terroristen nicht verhandelt, und dass man eigentlich eben nicht austauscht. Ich weiß, dass es ein schwerwiegendes Dilemma ist, aber am Ende des Tages, meine ich, muss eine Regierung sich fragen, ob damit die großen Interessen des Staates Israel in der Region eigentlich gut bedient waren oder nicht, und ich bezweifele, ob es am Ende, langfristig gesehen, uns in der Auseinandersetzung mit dem Terror weiter dienen wird.

    Meurer: Nun hat Gilad Shalit in diesem Interview, das er dem ägyptischen Fernsehen heute Morgen gegeben hat, selbst gesagt, "Ich hoffe, dass der Gefangenenaustausch zum Frieden zwischen Israelis und den Palästinensern führen kann." Ist das naiv, sind Sie völlig anderer Meinung?

    Stein: Also zunächst war ich sehr froh zu sehen, nach so vielen Jahren Gefängnis war er eloquent und sah abgemagert, aber eben gut aus, und hat eigentlich ganz vernünftig auch geantwortet. - Zu Ihrer Frage zwei Antworten. Erstens: Aus dem Austausch in der Vergangenheit, 60 Prozent derjenigen, die befreit worden sind, haben den Weg zurück zum Terrorismus gefunden. Zweitens: Im Hinblick auf die Auswirkung des Austausches auf den sogenannten Friedensprozess, ja wissen Sie, innerhalb des palästinensischen Lagers findet eine Auseinandersetzung zwischen Fatah unter Abbas und der Hamas unter Meshal statt, und ich glaube, in diesem Fall hat Hamas, glaube ich, Zulauf gefunden, denn die Lage der Hamas und das Ansehen der Hamas in Gaza ist in der letzten zeit dramatisch abgesunken.

    Meurer: Sie haben jetzt mehrere Punkte genannt. Sie sagen, das ganze schadet Fatah in der Westbank. Sie sagen, Israel zeigt sich erpressbar. Warum hat das dann Benjamin Netanjahu gemacht?

    Stein: Ich meine, es gibt mehrere Gründe, warum es zu diesem Zeitpunkt gekommen ist und nicht vor zwei Jahren, und hier hören wir auch die Überlegungen, die auch mit der Lage in der Region zu tun haben beziehungsweise mit dem Zustand der Hamas, deren Hauptquartier in Damaskus ist, und wir wissen, in welchem Zustand sich Syrien heute einerseits befindet. Andererseits die enorme Hilfe Ägyptens in der Post-Mubarak-Zeit, so dass man hier von einem Feld der Möglichkeiten gesprochen hat. Das ist über die Region hinaus.

    Was die innenpolitische Lage in Israel anbelangt, so glaube ich, ist das ein eindeutiger Sieg für eine außerparlamentarische Gruppe, die in der Lage war, Israel ist ja ein Familienstaat, wenn Sie so wollen, ...

    Meurer: Also Sie meinen damit die Verwandten Shalits, mit außerparlamentarischer Gruppe, oder wen meinen Sie?

    Stein: Ich meine, die Familie Shalit mit einer Hilfe auch von einer PR-Firma war in der Lage, das Thema zu emotionalisieren, das Thema zu personifizieren. Wie ich gesagt habe, Israel ist ein großes Familienland und jeder hat sich eigentlich mit der Familie Shalit auch identifiziert. Das ist wie gesagt auf der emotionalen Lage. Was ich versuche zu sagen ist, über die emotionale Lage hinaus, die verständlich ist, gibt es auch Interessen, und die große Frage, hinter die man heute auch Fragezeichen setzen kann, aber auch am Tag davor, ist, ob man dadurch für uns in der langen Auseinandersetzung mit dem Terror, ob durch diesen Gefangenenaustausch Israel stärker hervorgegangen ist oder schwächer, erpressbar mehr oder weniger, und in dem Nullsummenspiel, in dem wir im Nahen Osten sind, glaube ich, kann man Israel auch als Verlierer sehen und Hamas als Gewinner sehen. Das ist auch eine Sichtweise, und auch an diesem Tag muss man klar und realistisch die Sache sehen. Ich meine nicht, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Befreiung und der Wiederaufnahme der Gespräche zwischen uns und den Palästinensern zu sehen ist. Ich sehe es momentan hier eben nicht.

    Meurer: Der frühere israelische Botschafter in Berlin, Shimon Stein, heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk zur Freilassung heute des israelischen Soldaten Gilad Shalit. Danke, Herr Stein, und auf Wiederhören.

    Stein: Danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.