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Die Kluft zwischen Zionisten und Juden

Als Kind habe ich fest geglaubt, dass die israelische Gesellschaft derjenigen glich, die ich in meiner unmittelbaren Umgebung vorfand. Ich hörte Jiddisch und ein paar andere Sprachen. Ich konnte kaum Hebräisch sprechen. Mein erster Schultag hat mich in eine tiefe Krise gestürzt, denn meine Lehrerin war eine echte Sabra, eine in Palästina geborene Israelin. Ich sah eine Frau, die sich ganz anders verhielt, als unsere Eltern es taten. Sie war so offen, so freundlich. Und wir, wir 40 Schulanfänger, begannen zu weinen. Unsere Eltern hatten Angst. Sie wollten uns nicht allein lassen. Drei Monate lang begleiteten sie uns zum Unterricht. 40 Schüler und 40 Eltern in einer Klasse. Es war unglaublich. Ein fast surrealistischer Eintritt in die israelische Gesellschaft.

Von Sigrid Brinkmann | 14.02.2005
    Ohne zu zögern, sagt Lizzie Doron, hätten sich die 40 Schulanfänger nach dem anfänglichen Schock den Normen der israelischen Gesellschaft angepasst; gerade weil sie weiter in ihrer Shtetl-Welt lebten, in einem ärmlichen Viertel von Tel Aviv, dort, wo sich die Straße des Sieges und die Straße des Heldentums kreuzten. Eine weitere Schlüsselszene ereignete sich im Jahr 1960. Dorons Mutter fuhr mit der siebenjährigen Tochter in die Nähe von Haifa, wo sie nach überlebenden Angehörigen suchte. Doch der wie sie aus Polen stammende Mann mit dem selben Familiennamen interessierte sich nicht für ihr Schicksal. Er stellte ihr lediglich die alles entscheidende Frage: "Warum bist Du nicht vor dem Krieg gekommen?" Er, der zionistische Landarbeiter, war stolz drauf, dass er es als sehr junger Mann gewagt hatte, gegen den Willen der Eltern nach Palästina zu emigrieren. Zweifel waren ihm fremd, denn schließlich hatte er sich gerettet. Nach dieser Begegnung gab Dorons Mutter die Spurensuche auf.

    Das Buch handelt von der Kluft, die im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung zwischen Zionisten und Juden aufbrach, die nicht heimisch werden konnten. In knappen Szenen schildert Lizzie Doron das Befremden europäischer Juden angesichts ehemaliger Palmach-Kämpfer: Einheimischen, die mit Sten-Gewehren umgehen konnten, kurze Hosen und Sandalen trugen, am Schabbat Ausflüge machten und einfach jeden Hügel, jede Erhebung im Land kannten. Sie verkörperten den "neuen Juden". Lizzie Dorons Mutter hingegen fühlte sich als Repräsentantin aller Überlebenden:

    Wir gingen zum Beispiel zur Bank, und der Angestellte wollte Genaueres über unsere Adresse wissen. Sie sah ihn an, und wenn sie den Eindruck hatte, dass er ein stolzer Sabra war, dann sagte sie: Wollen Sie wirklich wissen, wo ich wohne? An manchen Tagen wohne ich in Krakau, an anderen in Plachow, aber wenn Sie mich wirklich finden wollen, dann in Auschwitz, Baracke II am Krematorium. Sie hat häufiger solch schneidende Antworten gegeben, um die israelische Nachlässigkeit im Umgang mit den Geschichten der Überlebenden anzukratzen. Bei einem Fest - es war der Unabhängigkeitstag - hat sie sich anwesenden Offizieren als "Lamm auf der Schlachtbank" vorgestellt. Sie machte die Offiziere verlegen. Und ich verlor meine erste Liebe, denn der Offizier, der die Party gab, war der Vater meines ersten Freundes. Ich war so wütend auf sie. Ich träumte ihren Tod und hoffte, dass ein Kibbuz mich aufnehmen würde. Ich rede mit Ihnen, als wäre ich nicht in Israel geboren worden. Ich bin eine Sabra. Aber ich muss mir und meiner Umgebung immer wieder beweisen, dass ich eine Sabra bin.

    Es war der Eichmann-Prozess, der den Kindern der KZ-Opfer vor Augen führte, mit welcher Geschichte ihre Eltern lebten. Lizzie Doron erinnert, wie Wehklagen und Glückwünsche auf der Straße ineinander verschmolzen, als Ben Gurion im Mai 1960 im Radio verkündete, dass der ehemalige SS-Obersturmbannführer in Israel vor ein Gericht gestellt werden würde. Die Kinder spielten weiter Schnitzeljagd, aber auf die Zettel schrieben sie jetzt: "Eichmann ist links, gehe nach rechts, und du kommst an". Wer andere ärgerte, hörte Verwünschungen wie "Du sollst mit Eichmann in einer Zelle sitzen".

    Leute drehten völlig durch. Vier Frauen aus der Nachbarschaft brachten sich um. Eine grauenhafte Zeit. Und wir Kinder wurden plötzlich vernachlässigt, weil unsere Eltern nur Radio hörten und Pillen schluckten, die ihnen halfen, einzuschlafen. Wir Kinder haben mehr oder weniger auf der Straße gelebt. Psychologen und Sozialarbeiter gab es halt damals noch nicht. Das Wesen der Beziehung zwischen uns und unseren Eltern bestand im anhaltenden Schweigen.

    Lizzie Dorons Mutter lehnte Wiedergutmachungszahlungen aus Deutschland ab. Nachbarn, die sich "kaufen" ließen, setzte sie auf ihre persönliche "Liste der Unberührbaren". Sachgeschenke "made in Germany" landeten im Abfall oder wurden zweckentfremdet. In Deutschland hergestellte Kristallschalen ließ sie zwischen Brennnesseln und Sauerklee in die Erde ein. Sie dienten so als Futternäpfe für die Tiere des Hauses. Doron zeichnet das Porträt einer prinzipienfesten Frau, die die Welt, der sie entstammte, niemals vergessen konnte und die den Toten die Treue hielt. Der Tochter aber gab sie auf, nur an die Zukunft zu denken. Bis zum Alter von 37 Jahren hielt diese sich an das Gebot der Mutter.

    Ich habe keine Bücher über den Holocaust gelesen, keine Fernsehsendungen geguckt, die das Thema berührten; auch keine Kinofilme. Mit 18 ging ich in einen Kibbuz. Weit weg in den Golan-Höhen - die 1967 annektiert wurden - lebte ich als eine Art Pionierin. Ich glaubte an die israelische Gesellschaft und den Zionismus als den richtigen Weg. Niemals dachte ich, dass ich etwas mit der Zweiten Generation zu tun hätte.

    Mit dem Tod der Mutter und den Fragen der eigenen Kinder begann das Erwachen. Lizzie Dorons autobiographische Novelle ist ein beeindruckender Versuch, eine Welt zu rekonstruieren. Nachdem sie ihr Buch 1998 in Israel veröffentlicht hatte, baten Überlebende der Shoah sie, über deren Kinder zu schreiben. Dazu zählten sieben Jungen, mit denen sie aufgewachsen war, und die im 1973 im Jom Kippur-Krieg getötet wurden. Binnen drei Monaten schrieb Lizzie Doron ihr zweites Buch. Sie sagt, sie habe sich damit von ihrer Kindheit verabschiedet - und von ihrem Beruf als Linguistin an der Universität von Tel Aviv. Doron arbeitet mittlerweile an ihrem vierten Buch. In ihm lässt sie drei Personen, die wie sie zur Zweiten Generation gehören, über Lebensentwürfe streiten. Nur eine Person hält daran fest, weiter in Israel zu leben.

    Ich meine, 50 Jahre reichen, um eine Lösung zu finden und nicht länger mit den Schatten unserer Vergangenheit zu leben. Die Haltung meiner Mutter war weise. Sie sagte: Leb’ nicht in der Vergangenheit, denn es hilft dir nicht. Versuch, eine neue Zukunft zu schaffen. Als Kind machte sie mich verrückt damit. Wir müssen eine neue Seite aufschlagen.


    Das könnte heißen, dass die israelische Gesellschaft sich "orientalisiert"; dass sie aufhört, als westlicher Block ohne Verbündete im Nahen Osten existieren zu wollen. Lizzie Doron hat lange schon gebrochen mit der zionistischen Weise, die Ankunft der Juden in Palästina zu deuten. Das Land war weder leer noch unbewohnt.

    Das Palästinenser- oder Araber-Problem resultiert aus der grundlegenden Überzeugung, dass dieses Land den Juden gehört. Ich glaube nicht, dass die Araber unser Hauptproblem sind. Wir sind so beschäftigt mit unseren Sorgen und Ängsten, dass wir bis heute der Frage ausweichen, wie viel dieser Gesellschaft die Religion bedeutet. Aus genau diesem Grund bin ich wenig zuversichtlich. Die Religiösen gewinnen immer mehr an Gewicht. Als Bürgerin mache ich mir Sorgen. Die Zukunft müssen wir radikal offen denken. Wir dürfen sie nicht mit den Traumen der Vergangenheit verknüpfen, mit all unseren Überzeugungen und Beziehungen als Juden dieser Welt.