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Die letzten Tage ihres Lebens

Kinder und Jugendliche sind in zahlreichen Filmen in Cannes dem Tod ausgesetzt. Vornehmlich als Schicksalsschlag kommt die Bedrohung über ihr Leben - doch es sind keine Kriege, keine Hungersnöte oder Epidemien, die sie drohen hinwegzuraffen, sondern Krankheiten.

Von Christoph Schmitz | 17.05.2011
    Der Tod und das Mädchen: In Gus Van Sants traurigem und poetischem Film "Restless" erlebt eine junge Frau - sie ist fast noch ein Kind - die letzten Tage ihres Lebens. Ein Tumor wuchert ihr durchs Hirn. Doch sie will die verbleibende Zeit nutzen und die Vielfalt und Schönheit der Welt, solange es geht, betrachten und bewundern. Sie tut dies zusammen mit ihrem neuen Freund, dessen Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Auf Beerdigungen fremder Menschen haben sich die Jugendlichen kennengelernt. Gus Van Sants milde und tröstliche Trauergeschichte eröffnete in Cannes die wichtigste Reihe neben dem Wettbewerb, "Un Certain Regard". Es war eine programmatische Eröffnung. Denn Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sind in zahlreichen Filmen aller Reihen Krankheit und Tod ausgesetzt. Vornehmlich als Schicksalsschlag kommt die Bedrohung über ihr Leben. Es sind keine Kriege, keine Hungersnöte oder Epidemien, die sie drohen hinwegzuraffen, auch wenn Valérie Donzelli in Titel ihres Films einen Krieg erklärt: "La guerre est déclarée".

    Als die Amerikaner nach den Anschlägen vom 11. September den Irak angreifen, beginnt auch ein junges Paar in Paris, Romeo und Juliet, eine Schlacht gegen den Hirntumor, der ihren kleinen Sohn belagert hat. Über viele Jahre hinweg messen Chirurgen und Onkologen der Krankheit die größeren Siegeschancen bei. Romeo und Juliet geben alles auf, Wohneigentum, Karriere und Partys, um das Kind rund um die Uhr zu betreuen. Gegen alle Wahrscheinlichkeit wird es gesund. Ein wilder, kämpferischer und lebenshungriger Film. Einen längeren Premierenapplaus hat es selten gegeben. Vielleicht weil mit dem Kind in gewisser Weise auch die Menschheit gerettet wird – der Junge trägt den alttestamentlichen Namen des ersten seiner Gattung, Adam.

    Trist ist die Wirklichkeit, in die Andreas Dresen mit seinem Film "Halt auf freier Strecke" führt. Unsicher, unbeholfen, hinter medizinischem Fachvokabular sich versteckend, überbringt der Onkologe dem Patienten die Todesbotschaft. Wieder ist es ein Hirntumor. Frank, Angestellter bei der Post, Mitte 40, Eigenheim, Frau, zwei Kinder, hat nur noch wenige Monate zu leben. Den Schock, die Panik, die Sprach- und Hilflosigkeit des Kranken, seiner Familie und Freunde inszeniert Dresen so ungeschminkt und scheinbar kunstlos, dass man mitunter meint, einen dokumentarischen Film zu sehen, als sei die Kamera live dabei. Auf diese Weise wirklichkeitsecht kann nur Dresen erzählen. Zugleich entwickelt er im beklemmenden Ambiente einen humanen Raum, wenn die Frau ihren Mann und die Kinder ihren Vater bis zu seinem letzten Atemzug zu Hause pflegen. Durch das geöffnete Fenster im Totenzimmer weht frische Schneeluft, das Leben kann auch für die Kinder weitergehen. Ganz andere Kräfte zur Rettung der Kinder mobilisiert Bruno Dumont in seinem Film "Hors Satan", was man mit "Satan draußen" übersetzen könnte.

    Ein junger Landstreicher erschießt an der Küste Nordfrankreichs einen Bauern. Der Bauer hat seine Stieftochter gequält, Näheres erfährt man nicht. Das Opfer selbst hat dem Landstreicher offensichtlich davon berichtet. Jetzt muss sie nicht mehr leiden, sagt der Landstreicher. Er redet nicht viel, wirkt fast debil, hat schlechte Zähne und lange Fingernägel, verfügt aber, wie sich nach und nach zeigt, über erstaunliche Kräfte. Er heilt kranke Kinder, treibt Dämonen aus, löscht Feuersbrünste und erweckt das am Ende vergewaltige und ermordete Mädchen vom Anfang des Films wieder zum Leben und zieht davon, durch eine weite, bäuerlich-archaische Landschaft. Bruno Dumont zeigt sie mit langen Einstellungen in cinemascopeweitem Pathos, eigenwillig, irritierend, wuchtig. Die Regisseure von Cannes sorgen sich in diesem Jahr besonders um die Kinder und tun alles, um sie zu schützen.