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Die Spiegel-Bestsellerliste "Belletristik"

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Kommentiert von Denis Scheck | 30.08.2013
    Dieses Gehirn ist immer noch schummrig angesichts von mehreren tausend Seiten Schundliteratur über Frankreich, London und Neuseeland aus der Feder deutscher sogenannter Unterhaltungsautorinnen.

    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Belletristik:

    Diesmal mit mehreren Büchern über Schriftstellern mit Schreibblockaden, einem Exkurs über untrügliche Kennzeichen von sogenannten Frauenbüchern, einer Reformulierung der alten These von der Trashliteratur als Humus für Höherwertiges, einem deutschen Autor auf den Spuren Goethes und einem amerikanischen auf den Spuren Dumas.
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Sachbücher der Deutschen satte 4027 Gramm auf die Waage: zusammen 4814 Seiten.
    Platz 10: Martin Suter: "Allmen und die Dahlien",Diogenes, 213 Seiten, 18,90 Euro

    Das Talmihafte dieses bräsigen Serienkrimis um ein gestohlenes Dahlien-gemälde von Henri Fantin-Latour offenbart sich, wenn Martin Suter etwa einen "Sportwagen" beschreibt, Zitat:

    "einen Wartburg aus den fünfziger Jahren".

    Das ist mehr als ein Fauxpas, sondern steht für das zutiefst Unstimmige in Suters Milieuschilderungen: Mit einem guten Krimi hat dieses Buch so viel zu tun wie DDR-Rennpappe mit einem Aston Martin.
    Platz 9: Uwe Timm: "Vogelweide", Kiepenheuer & Witsch, 336 S., 19,99 Euro
    Was tun, wenn das Begehren alle bürgerlichen Konventionen brüchig werden lässt? Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu: Uwe Timm hat einen elektrisierend modernen Roman über Ehebruch und das Leben in den Trümmern bürgerlicher Existenzen nach dem grossen Liebesrausch geschrieben: die Wahlverwandtschafen für das 21. Jahrhundert
    Platz 8: Alex Capus: "Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer", Hanser Verlag, 288 Seiten, 19,90 Euro

    Drei Lebensläufe von drei Menschen, die absolut nichts miteinander zu tun haben, ausser dass sie sich an einem Tag in ihrem Leben einmal am Zürcher Hauptbahnhof kurz hätten sehen können: diese abstruse Konstruktion wählt Alex Capus für seinen neuen Roman. Zwar hat mich dieses Buch bisweilen gut unterhalten, insbesondere in den Passagen über Heinrich Schliemann und Arthur Evans, unterm Strich aber bleibt es eine blutleere formale und deshalb eben abstruse Pflichtübung. Mag sein, dass solche Bücher geschrieben werden müssen. Gelesen werden müssen sie nicht.
    Platz 7: Sarah Lark: "Zeit der Feuerblüten", Bastei Lübbe, 912 Seiten, 18,00 Euro

    Mühselig, unmenschlich hart und strapazenreich war es, 1837 aus Mecklenburg nach Neuseeland auszuwandern, wovon dieses Buch erzählt. Mühselig, un¬menschlich hart und strapazenreich ist aber auch die Lektüre dieses von A bis Z vorhersehbaren und daher strunzlangweiligen Kitschromans. Noch so ein Klopper und ich wandere auch aus.
    Platz 6: Joel Dicker: "Die Wahrheit über den Fall Henry Quebert", Deutsch von Carina von Enzenberg, Piper Verlag, 736 Seiten, 22,99 Euro

    Joel Dicker ist ein 28 Jahre alter, Französisch schreibender Schweizer. Sein in einer amerikanischen Kleinstadt angesiedelter Roman war im vergangenen Jahr die grosse Sensation im französischen Literaturbetrieb, doch wer dieses Buch in der Erwartung einer echten literarischen Erfahrung zur Hand nimmt, wird enttäuscht werden. "Die Wahrheit über den Fall Henry Quebert" ist ein überkonstruierter Krimi über einen Schriftsteller mit Schreibblockade, der einen über 30 Jahre in der Vergangenheit liegenden Mord aufklärt, für den ausgerechnet sein Mentor als dringend tatverdächtig gilt. Wer aber nach der Lektüre auch nur eine Minute über die irrwitzige Handlung dieses Schmökers nachdenkt, merkt, dass Dickers Roman allenfalls Unterhaltungsware ist.

    Platz 5: John Grisham: "Das Komplott", Deutsch von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya, Heyne Verlag, 448 Seiten, 22,99 Euro

    Ein zu Unrecht zu zehn Jahren Gefängnis verurteilter schwarzer Anwalt nimmt Rache. Nichts weniger als eine US-amerikanische Fassung des "Grafen von Monte Christo" hat Grisham hier geschrieben. Was dem Buch an stilistischer Finesse fehlt, macht es an Spannung wett.
    Platz 4: Nina George: "Das Lavendelzimmer", Knaur Verlag, 384 Seiten, 14,99 Euro

    Die Handlung dieses Schmachtfetzens: Ein an seinen Liebesblessuren leidender 50-Jähriger betreibt seit 20 Jahren in Paris eine Schiffsbuchhandlung, wo er jedem geschundenen Seelchen ein literarisches Trostpflästerchen verschreibt. Eines Tages kappt er die Leinen und schippert los ... Das ist in etwa so glaubhaft wie ein Roman über eine Ziegenhirtin auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Viele sogenannte "Frauenromane" sind albern, krude oder klischeebeladen, "Das Lavendelzimmer" ist alles drei, darüber hinaus aber auch noch dumm, und diese Dummheit versucht dieses Buch unter einer dicken Bildungstunke zu tarnen: ein Schaf im Wolfspelz.
    Platz 3: Kerstin Gier: "Silber", Fischer FJB Verlag, 416 Seiten, 18,99 Euro

    Trittbrettfahrer gab es im Jugendbuchbereich schon immer. Was Kerstin Gier in ihrem Buch über zwei auf eine Schule in London wechselnde deutsche Schwestern macht, ist aber dreister: Alles im Auftaktband ihrer neuen Trilogie ist längst bekannt von J.K. Rowling, Stephenie Meyer und Mutter-und-Tochter-Cast von "House of Night". Dies ist der Versuch, literarisches Gammelfleisch einfach umzuetikettieren.
    Platz 2: Timur Vermes: "Er ist wieder da", Eichborn Verlag, 396 Seiten, 19,33 Euro

    Ein Comeback des wiederauferstandenen Adolf Hitlers in der Berliner Republik: Ich gebe zu, dies könnte der Stoff für ein großes satirisches Feuerwerk sein. In den Händen von Timur Vermes ist es aber leider nur ein Knallfrosch.
    Platz 1 der aktuellen Spiegel Bestsellerliste Belletristik:
    Dan Brown: "Inferno", Deutsch von Axel Merz und Rainer Schumacher, Lübbe, 685 S., 24 Euro

    Auf sämtlichen Bestsellerlisten der westlichen Welt steht seit Monaten ein Buch auf Platz eins, das - ein Schmarren ist. Aber zugegebenermassen ein sehr spannender und kurzweiliger Schmarren. Das beste, was man von diesem in Florenz, Istanbul und Venedig spielenden neuen Abenteuer von Dan Browns Symbologen Robert Langdon sagen kann, ist vielleicht, dass es einen unter hundert, tausend oder hunderttausend Lesern zu Dan Browns Inspirationsquelle, Dantes "Inferno", führen wird. Denn wie schreibt Dante so schön:

    "Aus einem kleinen Funken folgt oft eine große Flamme."