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Die Stadt verlassen

Es war einfach eine Freude zu sehen, dass etwas Wahres, etwas, in dem Wahrheit enthalten ist, auch literarische Wahrheit - und das ohne ein einziges Zugeständnis - also dass das funktioniert! Es funktioniert! Darin liegt die Freude! Christine Angot hat die Fäuste geballt, während sie erzählt. Seit ihrem Roman "Inzest" ist sie das Boxen gewöhnt, zumindest mit Worten, vor der Kamera. "Inzest" provozierte einen literarischer Skandal, wie man ihn sonst von Michel Houellebecq gewohnt ist. Christine Angot wird von den Rezensenten mal als genial, mal als psychisch gestört eingestuft. Viele warfen ihr vor, sie habe das Reizthema Inzest absichtlich gewählt, um in die Zeitungen zu kommen. Immer öfter wurde sie damals angesprochen, auf offener Straße, in ihrer Heimat Montpellier. Jeder kennt hier jeden. Diese öffentliche Kommentierung, man könnte fast sagen: Ausweidung ihres Buches setzte der Autorin so zu, dass sie die Stadt verließ. Mit ihrer Tochter zog sie nach Paris.

Jörg-Christian Schillmmöller | 25.07.2002
    Das ist die Situation von jemand, der etwas sagt, was man eigentlich nicht hören will. Für gewöhnlich nennt man das die Wahrheit. Und mein Leben in dieser Provinzstadt wurde einfach schwierig, ich habe mich allein, zu allein gefühlt. In Paris scheint zwar seltener die Sonne, aber ich fühle mich nicht so isoliert.

    Quitter la ville, "Die Stadt verlassen" - so heißt denn auch ihr neuer Roman. Anfangs ist das Buch ein Protokoll. Die Autorin archiviert darin die Reaktionen auf den eigenen Roman "Inzest". Sie reproduziert und kommentiert den öffentlichen Diskurs. Sie liefert die Kritik der Kritik. Also eine Rezeptionsgeschichte, könnte man meinen. Doch es ist auch ein Protokoll ihrer Einsamkeit - sagt ihr Übersetzer Christian Ruzicska:

    Bei 'Quitter la Ville' gibt es Stellen, die eine emotionale Tiefe erreichen, eine Kraft haben, für mich war es so an der Stelle, wo ich sehe: Je weiter die Reaktionen auf 'Inzest' den Autor des Buches fortgetrieben haben von einem Angenommensein in der Gesellschaft, dass also der Autor wirklich spürt: Ich bin allein. Ich weiß nicht wie oft das Wort "seul" im französischen Text vorkommt, ich habe es nicht gezählt, aber sie ist einfach zu allein.

    Christine Angot gibt sich kämpferisch. Etwas verbissen stellt sie im Text Zitate aus Rezensionen und die Absatzzahlen des Buches Inzest gegenüber. Seht ihr, es verkauft sich doch, hört man sie rufen. Die Zahlen sind dabei keineswegs kommerziell zu verstehen. Es sind symbolische Größen.

    Das ist alles andere als das Gesetz des Marktes. Es geht um die reine Zahl: wir haben zehn verkauft, 20,50,100,1000,10.000 und schließlich 50.000! Das hat etwas von einer Schlacht - und kaum zu glauben: Ich gewinne!

    Sehr nüchtern stellt Die Stadt verlassen den Literaturbetrieb in Frankreich dar - und zwar beide Seiten, Autoren wie Kritiker. Der Unterschied zwischen dem Skandalbuch Inzest und dem neuen Buch Die Stadt verlassen lässt sich am ehesten mit dem Gegensatz privat versus öffentlich beschreiben. In Inzest ging es um einen familiären Konflikt, in Die Stadt verlassen nennt sie all die prominenten Namen der literarischen Welt: Namen von Zeitungen, Fernsehsendungen und nicht zu knapp auch die ihrer Kritiker, allesamt unverschlüsselt. Das klingt im Buch dann so:

    Die Tageszeitung 'Le Monde' beginnt ihre literarische Kritik am Donnerstag, 2. September, mit einem langen enthusiastischen Artikel. Am darauffolgenden Tag ermöglicht die Fernsehsendung "Bouillon de Culture" Christine Angot, ihren Ruf als Provokateurin zu etablieren. Während der Sendung greift sie aufs heftigste Jean-Marie Laclavetine an, leitenden Lektor des Hauses Gallimard, auch er Schriftsteller. Eine Form der Abrechnung, die sich wahrscheinlich aus der Tatsache erklären lässt, dass Christine Angot, ungestüm wie sie ist, es nicht ertragen konnte, dass einige ihrer Manuskripte seitens des Hauses Gallimard abgelehnt worden sind. ICH! Die ich von einer Sanftheit bin, wie es selten geworden ist. Sie lässt mich im Stich, meine Sanftheit, wenn ich den Eindruck gewinne, die einzige zu sein, die sagen kann: FALSCH.

    Der wichtigste Wert in einem sozialen Organismus, das ist das Zusammengehörigkeitsgefühl, sagt Christine Angot. Und fügt kritisch hinzu: um akzeptiert zu werden von eben dieser Gruppe, da ist man heute doch bereit, fast alles tu tun.

    Es gibt Dinge, um die jeder weiß, im Privaten. Aber setzen Sie dieselben Leute vor ein Mikrofon oder eine Kamera - sprich: vor ein Publikum, einen Zeugen, der das Gesagte gleichsam zum Klingen bringt - und auf einmal zählt nur noch: Wie werden meine Worte aufgenommen? Das schockiert mich. Und alles ist so. Alles. Es ist so!

    Gegen diese sozialen Rollenspiele, gegen die internen Absprachen richtet sich Christine Angot. Sie spricht immer dann, wenn man eigentlich schweigen sollte. Das ist trotzig, auch mutig sicherlich, und dafür handelt sie sich ja auch regelmäßig Ärger ein. Sie macht keinen Hehl daraus: Diese Haltung kostet auf Dauer ganz schön Kraft.

    Natürlich, ganz enorm, ich bin fast explodiert. Mein tierischer Instinkt sorgt ja eigentlich dafür, dass ich keine Lust habe etwas zu sagen - weil es Probleme macht. Trotzdem zu sprechen: Das ist genau die Position des antiken Helden: Ödipus würde ja gerne in der Stadt bei seiner Familie bleiben, aber an einem bestimmten Punkt macht es einfach Klick in seinem Innern - und er ist heimatlos.

    Die Stadt verlassen ist ein kompliziertes und dennoch faszinierendes Buch. Der Text durchläuft verschiedene Stadien, er ist Protokoll ebenso wie Bekenntnis, er ist Tagebuch ebenso wie Abhandlung und nicht zuletzt: Persönlichkeits-Suche. Als Instrument dafür dient die griechische Antike, deren Figuren auf halber Strecke in den Text hineingeraten: Odysseus, Antigone, Ödipus - jeder ist auf seine Weise allein, jeder verkörpert den heroischen Kampf gegen ein übermächtiges Kollektiv. Genauso fühle ich mich manchmal, sagt Christine Angot und muss selbst lächeln. Das war jetzt doch etwas zuviel Pathos. Ich schreibe eben solche Abenteuerbücher, fügt sie schnell hinzu. Da weiß man nie, wo die einen hinführen. Das bestätigt ihr Übersetzer gern:

    Das ist ja kein bürgerliches Sprechen, das hat mit sophisticated in dem Sinne, dass man sagt es ist im Rahmen des Möglichen nochmal hochgezüchtet, wenig zu tun, weil sie wirklich auch ganz unübliche Wege geht. Es ist erstaunlich, weil man immer wieder denkt, man kann den Gedanken, den sie anfängt zu denken, zu Ende führen - und dann macht sie Hasenschläge, sie weicht der nachvollziehbaren Gedankenlogik aus und schlägt plötzlich mit ungeheurer Wucht andere Erkenntniswege ein. Auch wenn es um weibliche Identität und die Suche nach einer eigenständigen Autorenstimme geht: Christine Angot will nicht der feministischen Literatur zugerechnet werden. Sie will auch nicht darüber reden. Sie sagt "Ich weiß nicht" und spricht dann lieber über ihren Stil. Der ist nämlich ganz schön sperrig. Ihre Zeichensetzung erscheint willkürlich, die Sätze sind kaum voneinander abzugrenzen, kurz gesagt: es knirscht etwas im syntaktischen Gebälk. Ihr Übersetzer liefert das passende Zitat.

    Das liegt an meiner inzestuösen mentalen Struktur - das bedeutet: dass sie sagt ich bringe alles durcheinander, ich füge zusammen was sich nicht zusammenfügen lässt und diese Unordnung ist aber ein inzestuöses Moment. Das heißt, das bestimmte Begriffe eng aneinander gefügt werden, sich reiben, auch anfangen zu brennen, zu glühen, wenn man will - und eine neue Bedeutung aufgemacht wird. Meines Erachtens ein völlig normaler Vorgang wie bei jedem Wortspiel.

    Glücklicherweise entlädt sich diese manchmal enervierende Lust am literarischen Inzest in "Die Stadt verlassen" nicht so extrem wie im Vorgängerbuch. Angots Roman ist dennoch ein verwirrender Text, kein glattpolierter Bestseller. Es ist kein Krimi, kein Tagebuch, keine Kurzgeschichte, keine Reportage, kein Märchen und doch findet man Spuren von jeder dieser Textsorten. In jeder Zeile spürt man, dass es da jemand verdammt ernst meint. Das ist anstrengend, aber man bleibt dran.

    Ein Dichter ist jemand, der ein Eckchen von etwas Wahrem sieht, sagt Christine Angot. Ihre Ecke ist für die meisten anderen ein blinder Fleck. Weil eben niemand Lust hat, seine Stadt zu verlassen. Fazit: Wo sich sonst keiner hintraut - dort findet man Christine Angot.