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Die Vielfalt der zeitgenössischen Schlagzeugmusik

Neue Musik ist auch mit der Emanzipation von Rhythmus und Klangfarbe verbunden. Im 19. Jahrhundert war das Schlaginstrumentarium noch weitgehend auf Pauken und Triangel beschränkt. Zeitgenössische Schlagzeugmusik bietet eine vielfältige Tonkunst, wie drei neue CDs zeigen.

Am Mikrofon: Egbert Hiller |
    Heute geht es um Neue Musik, und zwar für Schlaginstrumente. Vorstellen möchte ich drei CDs, die das breite Spektrum der Schlagzeugmusik in unterschiedliche Richtungen ausloten.

    "Joseph Pereira, Repoussé, I.: Volume
    Los Angeles Percussion Quartet
    Los Angeles Percussion Quartet: Rupa-Khanda
    Sono Luminus; DSL-92150; LC: o. A.; EAN-Code: 53479 21502
    Track 7"

    Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Bedeutung des Schlagzeugs stetig gewachsen. Die Neue Musik ist nicht nur mit der Auflösung überkommener Formen und der Erweiterung harmonischer Spektren verbunden, sondern auch mit der Emanzipation von Rhythmus und Klangfarbe. Die Befreiung des Klangs aus den Fesseln traditioneller Muster trieb die Komponisten auf Entdeckungsreisen. War das Schlaginstrumentarium noch im 19. Jahrhundert weitgehend auf Pauken und Triangel beschränkt, so ist heute eine ungeheure Vielfalt verschiedenster Klangerzeuger im Einsatz. Längst treten Schlagzeuger solistisch hervor, und auch auf Schlaginstrumente fokussierte Ensembles sind keine Seltenheit mehr.

    "Eric Guinivan, Ritual Dances, V.: Sword Dance
    Los Angeles Percussion Quartet
    Los Angeles Percussion Quartet: Rupa-Khanda
    Sono Luminus; DSL-92150; LC: o. A.; EAN-Code: 53479 21502
    Track 5"

    "Sword dance", "Schwerttanz", aus den "Ritual Dances" von Eric Guinivan, fulminant interpretiert vom Los Angeles Percussion Quartet. Eric Guinivan ist selbst Mitglied dieser jungen Formation, die bewusst an fortschrittliche Strömungen in der amerikanischen Musik anknüpft, deren Wurzeln bis in die 1930er-Jahre zurückreichen. Die Fruchtbarmachung von perkussiven Klängen und das Vortasten in die Welt der Geräusche gehören zu den wichtigsten Errungenschaften dieser Strömung, der amerikanische Komponisten und Experimentatoren wie John Cage, Lou Harrison, Henry Cowell, Harry Partch, Terry Riley, James Tenney oder auch Frank Zappa zuzurechnen sind.

    Auf der ersten CD des Los Angeles Percussion Quartet sind diese Namen indes nicht zu finden, wohl aber widmeten sich die vier Musiker zeitgenössischen Tonkünstlern, die sich diesem Kreis verbunden fühlen. Hier ein Ausschnitt aus dem Titelstück der CD: "Rupa-Khanda" von Sean Heim.

    "Sean Heim, Rupa-Khanda
    Los Angeles Percussion Quartet
    Los Angeles Percussion Quartet: Rupa-Khanda
    Sono Luminus; DSL-92150; LC: o. A.; EAN-Code: 53479 21502
    Track 6"

    In seinem Stück "Rupa-Khanda" setzte sich der 1967 in Philadelphia geborene Sean Heim mit Todesritualen aus unterschiedlichen Kulturen auseinander. Zugleich ist das Werk seinem Freund und Lehrer Louis W. Ballard zugeeignet, der 2007 verstarb. Der zeremonielle Charakter von "Rupa-Khanda" gemahnt gleichermaßen an magische Vorgänge und an die Gesetze der Natur, denen sich auch der Mensch nicht entziehen kann. Das Los Angeles Percussion Quartet zelebriert die meditativen Passagen ebenso konzentriert und eindringlich wie die rhythmischen Verschachtelungen in den bewegten Teilen.

    "Joseph Pereira, Repoussé, IV.: Monochrome
    Los Angeles Percussion Quartet
    Los Angeles Percussion Quartet: Rupa-Khanda
    Sono Luminus; DSL-92150; LC: o. A.; EAN-Code: 53479 21502
    Track 10"

    "Monochrome", der vierte Satz aus "Repoussè" von Joseph Pereira, der selbst als Schlagzeuger in renommierten Orchestern wie den New Yorker Philharmonikern wirkte. Auch Pereira begleitete die CD-Aufnahmen und nahm Einfluss auf die Interpretation. Die enge Kooperation mit den Komponisten und das Ringen um die Ausgestaltung jedes Details ist für das Los Angeles Percussion Quartet eine Selbstverständlichkeit, zumal es sich bei allen vier Stücken auf der CD um Ersteinspielungen handelt. Heraus kamen sehr spannende Klanglandschaften, in denen komplexe Strukturen und sinnlicher Ausdruck Hand in Hand gehen.

    Gegenüber dem erst seit 2008 bestehenden Los Angeles Percussion Quartet kann das Tammittam Percussion Ensemble bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken. Guido Facchin hat das Ensemble 1986 in seiner Heimatstadt Venedig gegründet. Obwohl das Schlagzeug im Zentrum steht, werden auch andere Instrumente wie Klavier und Harfe einbezogen. Zum 25-jährigen Jubiläum erschien nun eine Doppel-CD, die die Arbeit des Tammittam Percussion Ensemble dokumentiert und neben einigen bekannten Komponisten auch viele hierzulande noch kaum wahrgenommene Werke enthält; hier der Beginn von Mario Pagottos Stück "Le Ombre delle Idee", Numero due, für zwei Klaviere und Schlagzeug, das an die amerikanische Minimal Music erinnert und für das Ensemble entstanden ist.

    "Mario Pagotto, Le Ombre delle Idee II
    Tammittam Percussion Ensemble; Ltg.: Guido Facchin
    25 Years with the Tammittam Percussion Ensemble
    CDS 720/1-2; LC: 02654; EAN-Code: 007144 607203
    Track 6"

    Mit "Avantgarde"-Tendenzen oder innovativen Ansätzen in der Schlagzeugmusik hat das Tammittam Percussion Ensemble nicht allzu viel im Sinn. Das älteste Stück auf den zwei CDs ist zugleich das radikalste, und das will was heißen, stammt es doch von 1931. Nun, "Ionisation" von Edgard Varèse ist ein Klassiker der "Moderne", der amerikanische Komponist französischer Herkunft verwendete darin erstmals ausschließlich Klänge mit unbestimmter und gleitender Tonhöhe. 41 Schlaginstrumente und zwei Sirenen, verteilt auf dreizehn Spieler, rufen ebenso markante wie verstörende Klangwirkungen hervor. Die Interpretation des Tammittam Percussion Ensemble unter Guido Facchin lässt keine Wünsche offen.

    "Edgard Varèse, Ionisation
    Tammittam Percussion Ensemble; Ltg.: Guido Facchin
    25 Years with the Tammittam Percussion Ensemble
    CDS 720/1-2; LC: 02654; EAN-Code: 007144 607203
    Track 15"

    Abgesehen von Edgard Varèses "Ionisation" und Bruno Madernas Konzert für zwei Klaviere und Instrumente, worin das Schlagzeug nicht im Vordergrund steht, überwiegt auf der Jubiläums-CD des Tammittam Percussion Ensemble das Gefällige, Eingängige und Melodiebetonte – und dass es sich lohnen kann, diese Seite des Schlagzeugs zu erkunden, offenbaren vor allem die Werke des Brasilianers Ney Rosauro, des Italieners Mario Pagotto und des Ensembleleiters Guido Facchin, der zwei eigene Stücke beitrug. Hier ein Ausschnitt aus "Wu Shih", seiner Suite für Harfe und Schlagzeug.

    "Guido Facchin, Wu Shih, Suite für Harfe und Schlagzeug
    Tammittam Percussion Ensemble; Ltg.: Guido Facchin
    25 Years with the Tammittam Percussion Ensemble
    CDS 720/1-2; LC: 02654; EAN-Code: 007144 607203
    Track 6"

    In ganz andere klangliche Sphären stoßen die "Szenerien für Schlagzeug und Ensemble" mit Musik des Dänen Per Norgard vor. Zwei der vier Stücke auf dieser CD schrieb Norgard dem kolumbianischen Schlagzeuger Christian Martínez auf den Leib; zur Seite steht Martínez das renommierte, 1967 auf Initiative des dänischen Kulturministeriums ins Leben gerufene Esbjerg Ensemble unter seinem Leiter Petter Sundkvist. Per Norgard, der 1932 geboren wurde, zählt zu den bekanntesten skandinavischen Komponisten. Durch ihn geriet die Hochschule von Arhus zu einem Zentrum für experimentelle Musik, wo er in den 1960er- und 70er-Jahren ein Kompositionssystem mit "unendlichen Reihen" austüftelte. Seine fantasievollen "Arabesken" für Soloschlagzeug schrieb Norgard 2010; sie sind strukturell bis ins Kleinste durchdacht, und doch hört man in der großartigen Darbietung von Christian Martínez den aufreizenden Spannungskurven die konstruktive Durchdringung nicht an.

    "Per Norgard, Arabesques für Schlagzeug solo, I
    Christian Martínez, Schlagzeug
    Per Norgard; Sceneries for percussion and ensemble
    DACAPO 8.226092; LC: 09158; EAN-Code: 36943 60922
    Track6"

    Dass der klangliche und stilistische Bogen der zeitgenössischen Schlagzeugmusik sehr weit gespannt ist, bezeugen die drei in der heutigen Sendung vorgestellten CDs eindrucksvoll. Die CD des Los Angeles Percussion Quartet mit Musik von Eric Guinivan, Sean Heim, Joseph Pereira und Jeffrey Holmes produzierte das amerikanische Label Sono Luminus in zwei Versionen als Blu-ray Disc und als Standard-CD. Die Doppel-CD zum 25-jährigen Jubiläum des Tammittam Percussion Ensemble brachte das italienische Label Dynamic heraus, und Per Norgards "Szenerien für Schlagzeug und Ensemble" mit Christian Martínez und dem Esbjerg Ensemble unter Petter Sundkvist erschienen bei dem dänischen Label DACAPO.