Freitag, 29. März 2024

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Digitalisierung an Schulen
"Eine Riesen-Chance gerade für die berufliche Bildung"

FDP-Generalsekretärin Nicola Beer hat dem Psychologen Manfred Spitzer widersprochen, der die Digitalisierung im Klassenzimmer ablehnt. Die Modernisierung sei wichtig, um Kinder für die berufliche Zukunft fit zu machen, sagte sie im Dlf. Stattdessen werde aber "viel Angstmacherei" betrieben.

Nicola Beer im Gespräch mit Christoph Heinemann | 09.03.2018
    Nicola Beer, Generalsekretärin der FDP, im Oktober 2017
    Digitale Medien böten wunderbare pädagogische Möglichkeiten, um Kindern die Welt begreifbar zu machen, sagte die FDP-Politikerin Nicola Beer im Dlf (imago)
    Christoph Heinemann: "Gratulation!" oder "Wie könnt ihr nur?" – so lassen sich Äußerungen unserer Hörerinnen und Hörer zusammenfassen, die uns gestern erreicht haben, nach dem Gespräch mit dem Psychiater und Hochschullehrer Professor Manfred Spitzer. Es ging um das sogenannte digitale Klassenzimmer, die Frage, ob Kinder und Jugendliche in der Schule das Programmieren schon lernen sollten, oder überhaupt die Verwendung von iPhone, Pad, Tablet, Computer im Schulunterricht. Die Empörung richtete sich einerseits gegen Manfred Spitzers bewusst als "drastisch" gekennzeichnete Verwendung des Begriffs "Behinderte" im Zusammenhang mit motorischen Defiziten. Andererseits gegen die Grundüberzeugung unseres Gesprächspartners, der meinte: "Tablets und anderer flimmernder Kleinkram haben insbesondere in Grundschulen nichts verloren, weil sie schaden und nicht nutzen." – Wir hören Manfred Spitzer:
    Manfred Spitzer: Schauen Sie, ein Smartphone macht einen hohen Blutdruck, macht kurzsichtig, und zwar in Südkorea schon 95 Prozent der jungen Bevölkerung. Normal wären fünf Prozent höchstens. Smartphones bewirken Diabetes, Schlafstörungen, Depressionen. Mädchen, die mehr als drei Stunden in Facebook sind mit 13, haben die doppelte Wahrscheinlichkeit, mit 18 depressiv zu sein. Smartphones erzeugen Sucht. Social Medias sind eben nicht social. Das ganze Wort ist hier eine Sprachverstellung.
    Heinemann: Manfred Spitzer gestern bei uns im Deutschlandfunk. – Am Telefon ist jetzt Nicola Beer, Doppel "e", nicht zu verwechseln mit Dorothee Bär mit "ä" geschrieben. Letztere gehört der CSU an und soll sich als Staatsministerin um die Digitalisierung kümmern. Nicola Beer war hessische Kultusministerin, ist Generalsekretärin der FDP, bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion und jetzt am Telefon. Guten Morgen!
    Nicola Beer: Schönen guten Morgen!
    Heinemann: Frau Beer, sollten Kinder die Welt als Kugel oder als Google begreifen lernen?
    Beer: Ich glaube, sie sollten beides begreifen lernen, und das ist mir in dem Interview, das Sie zitiert haben, mit Herrn Spitzer auch zu kurz gekommen. Es geht ja nicht darum, die anderen Sachen alle wegzuschieben und die Welt nur noch über Google zu verstehen. Aber was ich erreichen will – und das scheint Herr Spitzer nicht verstanden zu haben -, das ist, dass die Kinder, aber auch Menschen fortgeschrittenen Alters, die Abläufe hinter Google und Co. verstehen, dass sie wissen, was ein Algorithmus ist, wie die Zusammenhänge sind, weil ich nämlich nicht möchte, dass sie nur Wischen und Klicken. Ich möchte, dass sie nicht nur Nutzer sind, sondern ich möchte, dass sie diese digitale Welt selbstbestimmt gestalten können. Und wenn wir da die richtige Mischung finden, dann bereiten wir alle Menschen in diesem Land richtig auf diese Welt vor.
    "Wir haben wunderbare pädagogische Möglichkeiten"
    Heinemann: Wenn ich Sie richtig verstehe, sollten Kinder vom Grundschulalter an lernen, wie die Welt des Internets und auch die Zugangsgeräte funktionieren?
    Beer: Ja, natürlich! Wir haben wunderbare pädagogische Möglichkeiten, mit kleinen Tech-Robotern schon erste einfachste Programme zu machen, dass ich weiß, wie die Zusammenhänge in dieser logischen Welt sind, weil letztendlich sind das logische Entscheidungen, die ich hier dann an so einem kleinen Lego-Roboter sehe, den ich auch noch selbst zusammenbaue, der sich dann so bewegt, wie ich ihm das einprogrammiert habe, dass ich das schon mal begreifen kann, und zwar begreifen im wahrsten Sinne des Wortes. Das funktioniert nicht auf dem Smartphone. Das funktioniert vielleicht nachher im Messen mit dem Tablet. Aber vor allem, dass ich sehe, das was ich hier in eine logische mathematische Reihenfolge bringe, das bewegt nachher eine kleine Figur, einen kleinen Greifarm, ein Sensor arbeitet zusammen, kann Farben oder Abstände erkennen, mit einem Körper, den ich selber gestaltet habe, also etwas, was gerade Motorik, logisches Denken und Kreativität miteinander verbindet. Unsere Lehrkräfte, die sind gut genug, um den Kindern diese Welt plastisch und verständlich zu machen.
    Heinemann: Stichwort Motorik. Manfred Spitzer sagt ja, Kinder können wegen der Smartphone-Nutzung keinen Stift mehr halten. Und wenn sie mit dem Finger nicht lernen zu begreifen, werden sie später nichts kapieren.
    Beer: Ja, völlig richtig. Das eine tun, aber das andere nicht lassen. Begreifen hat das Wort ja schon, dass ich auch mit der Hand begreifen, dass ich mit der Hand schreiben lernen muss, bitte aber dann richtig und nicht nur nach Gehör.
    "Es ist wichtig, dass ich meine Wörter begreife"
    Heinemann: Warum soll ich denn mit der Hand schreiben lernen, wenn ich das eintippen kann auf einem Smartphone oder auf einem Tablet?
    Beer: Weil Sie zum Beispiel auch in der neuen digitalen Welt auf einem Heft schreiben mit einem speziellen Stift und das übertragen bekommen in getippten Text. Da entwickelt sich ja momentan unheimlich viel. Es ist wichtig, dass ich meine Wörter begreife. Das wissen wir aus der Pädagogik, aus der Erziehungswissenschaft. Aber gleichzeitig muss ich auch begreifen und nicht nur anwenden, was in den neuen technischen Welten sich abspielt.
    Dann gibt es einen zweiten Punkt, der mir extrem wichtig ist, mir auch für Lehrkräfte eine große Unterstützung ist. Die neuen digitalen Formen, die sind ja auch neue pädagogische Diagnose- und auch pädagogische Erziehungsinstrumente. Ich habe ganz tolle Möglichkeiten. Es gibt erste Entwicklungen zum Beispiel zur Diagnose von Lese-Rechtschreib-Förderung schon im Kindergarten- und Grundschulalter – früher, damit ich sie besser nachher angehen kann, weil Lese-Rechtschreib-Schwächen sind heilbar. Aber wir haben momentan 25 Prozent unserer Kinder, die mit einer solchen Bürde in ihr Schulleben starten. Diese pädagogischen Möglichkeiten, die möchte ich in die Schule bringen. Die möchte ich allen Lehrkräften und Eltern zur Verfügung stellen. Und ich finde, dass wir dabei viel zu langsam sind.
    Heinemann: Wenn die Digitalisierung in die Klassenzimmer einzieht, was sollte aus dem Schulalltag ausziehen?
    Beer: Nein! Die Digitalisierung wird alle Fächer, alle Fachbereiche betreffen. Die Art und Weise, wie wir uns zum Beispiel kulturell ausleben, die ist ergänzt worden um digitale Ausdrucksmöglichkeiten.
    Heinemann: Aber eine Schulstunde dauert 45 Minuten. Irgendwas muss jetzt rausfliegen.
    Beer: Ja, aber wir haben ja schon jetzt Informatik-Unterricht, der sich verändert. Wir werden andere pädagogische Instrumente einsetzen im Deutschunterricht, im Geografieunterricht, im Biologieunterricht. Wir werden Experimente wahrnehmen können, virtuelle Zeitreisen zum Beispiel in die Kreidezeit. Oder sehen Sie unsere Berufsschulen an, eine Riesen-Chance gerade für die berufliche Bildung. Ich kenne Schulen im Ausland, die arbeiten mit dreidimensionalem Fluggerät für Fluggerätemechaniker, weil sie würden sich diese neuen Airbus- und Boeing-Maschinen niemals leisten können, die in das Klassenzimmer zu stellen. Aber in der digitalen Welt können die Schüler direkt an diesen Geräten herumschrauben und sind so bestens auf ihre Berufsleben vorbereitet.
    "Es geht um eine Modernisierung"
    Heinemann: Frau Beer, Sie klingen wie Theodor Storms "Kleiner Häwelmann". Der ruft: "Mehr! Mehr!"
    Beer: Nein, es geht nicht um "Mehr! Mehr!", sondern es geht um eine Modernisierung. Wir müssen die Menschen in diesem Land fit machen und das werden wir nur, wenn sie die Zusammenhänge hinter diesen neuen Technologien verstehen. Das ist mir auch deswegen so wichtig, weil momentan sehr viel Angstmacherei unterwegs ist im Zusammenhang mit dem, was Menschen glauben, was Digitalisierung sei, was sie mit ihnen machen würde, und ich möchte, dass Menschen wissen, es ist nicht die Digitalisierung, die etwas mit ihnen macht, sondern sie können diese Technik selbst gestalten und dementsprechend auch selbst entscheiden, wo sie sie einsetzen. Es sind nicht 100 Prozent des Tages, das ist nicht, dass die Kinder keinen Sport mehr machen sollen. Das müssen sie. Das hat nichts damit zu tun, dass sie die anderen Fächer nicht mehr lernen sollen. Aber sie müssen auch wissen, wie sich diese Welt durch diese neuen Technologien verändert.
    Heinemann: Aber sie machen doch heute schon keinen Sport mehr und kaum noch Musik.
    Beer: Das hat aber doch dann nichts mit der Digitalisierung zu tun.
    Heinemann: Sondern?
    Beer: Dann müssen wir sie einfach wieder dazu anhalten, dass das wieder stattfindet. Dann müssen wir in den Schulen dafür sorgen, dass der Sportunterricht, auch die dritte Sportstunde gehalten wird, dass wir genug Lehrkräfte hier ausbilden und auch entsprechend einstellen. Das ist dann die Verantwortung der Länder.
    "Das eine tun und das andere nicht lassen"
    !Heinemann:!! Sollte man nicht erst mal dafür sorgen?
    Beer: Natürlich müssen wir dafür sorgen. Aber noch einmal: das eine tun und das andere nicht lassen. Das Land insgesamt in Deutschland hinkt hinterher in der Digitalisierung, bei Ausstattung, bei der neuen rechtlichen Rahmensetzung, aber leider auch in der Bildung. Die Kinder, die wir heute ausbilden, die werden nach ihrem Schulabschluss in Berufen arbeiten, die wir heute noch gar nicht kennen. Dafür müssen wir sie stark machen.
    "Ich möchte, dass unsere Schulen international wettbewerbsfähig sind"
    Heinemann: Frau Beer, digitales Klassenzimmer klingt modern, riecht so ein bisschen wie ein Neuwagen. Möchten Sie mit diesem Schlagwort die Vernachlässigung der Schulen in Deutschland übertünchen?
    Beer: Nein, um Gottes willen! Wir haben einen großen Sanierungsstau auch bei der Gebäudestruktur. Aber ich möchte, dass unsere Schulen international wettbewerbsfähig sind in Ausstattung, in den Lerninhalten, in den Lehrmaterialien, und ich weiß, dass die neuen digitalen Möglichkeiten die jetzigen Möglichkeiten ergänzen können, und zwar so, dass Lehrkräfte es einfacher haben, Kinder individuell ganz genau auf ihre Bedürfnisse hin zu fördern, aber auch zu fordern, weil es über selbstlernende Lernprogramme Möglichkeiten gibt, dass jeder seine Geschwindigkeit gehen kann und damit seinen persönlichen Lernerfolg erzielt.
    "Wir dürfen Eltern auch nicht aus ihren Erziehungsaufgaben entlassen"
    Heinemann: Lehrerinnen und Lehrer klagen ja heute schon, dass die Schule alles Mögliche zusätzlich vermitteln muss, was eigentlich Sache der Eltern wäre, vom Zähneputzen bis zur Toleranz. Gehört die Netzwelt so wie das Fußballtraining, wie der Klavierunterricht nicht klar zum außerschulischen Bereich?
    Beer: Nein! Deswegen, weil das eine technologisch durchaus komplizierte und auch herausfordernde Welt ist, und es ist etwas, was Eltern häufig selbst nicht verstehen und deswegen auch in der Schule vermittelt werden muss. Aber ich bin völlig bei Ihnen: Wir dürfen Eltern auch nicht aus ihren Erziehungsaufgaben entlassen. Das Elternrecht ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht in diesem Zusammenhang. Deswegen müssen wir auch hier die Elternarbeit mit einbeziehen, müssen aber gleichzeitig auch Bereiche, die Eltern gerne abgedrückt haben auf das Klassenzimmer, wieder in den heimischen Bereich zurückverlagern, wie zum Beispiel das Zähneputzen oder auch die Erklärung, wie ich mich in einer Gruppe sozial ordentlich verhalte.
    Heinemann: Nicola Beer, FDP-Generalsekretärin und bildungspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Beer: Bitte schön! Schönen Tag noch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.