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Diskreditierung der Wissenschaft
"Wissenschaft produziert keine Fakten"

Die Beziehung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft sei schon immer schwierig gewesen, sagte der Soziologe Armin Nassehi im DLF. Denn Wissenschaft produziere nicht die Eindeutigkeit, die die Gesellschaft gerne hätte. Nassehi forderte Wissenschaftler dazu auf, ihre Erkenntnisse dem Rest der Gesellschaft verständlich zu machen.

Armin Nassehi im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Armin Nassehi, deutscher Soziologe und Sachbuchautor. Aufgenommen am 08.06.2010 in Mainz.
    "Wissenschaft produziert keine Fakten, sondern unterschiedliche Aussagen zu bestimmten Fakten", sagte der Sozialwissenschaftler Armin Nassehi im DLF. (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Manfred Götzke: Hunderttausende Forscher sind vor zwei Wochen weltweit auf die Straßen gegangen, um gegen das zu demonstrieren, was die US-Administration alternative Fakten nennt, die meisten anderen Unwahrheiten. Forscher, nicht nur in den USA, machen sich Sorgen um die Unabhängigkeit und die Freiheit der Wissenschaft, und sie fragen sich, warum in Gesellschaften, die sich ja so gerne als Wissenschafts- und Wissensgesellschaften bezeichnen, die Wissenschaft derzeit so oft diskreditiert wird. Gestern hat sich auch die Hochschulrektorenkonferenz auf ihrer Jahresversammlung mit dieser Frage beschäftigt.
    Den Hauptvortrag hat gestern der Münchener Soziologie und Wissenschaftssoziologe Armin Nassehi gehalten. Herr Nassehi, sind es nur die Trumps dieser Welt, die der Wissenschaft mit Skepsis entgegentreten?
    "Die Gesellschaft tritt der Wissenschaft fast immer schon mit Zweifeln gegenüber"
    Armin Nassehi: Nein, das sind nicht nur die Trumps dieser Welt. Die Trumps dieser Welt machen das vielleicht besonders ostentativ, besonders sichtbar, besonders schamlos, aber man kann sagen, dass die Gesellschaft der Wissenschaft eigentlich fast immer schon, zumindest mit Zweifeln gegenübertritt. Es ist ja keineswegs so, dass alles, was in der Gesellschaft passiert, sozusagen auf die Wissenschaft hört. Also es ist keineswegs so, dass wenn Entscheidungen getroffen werden, ob nun politischer oder ökonomischer oder auch privater Natur, vorher die Wissenschaft befragt wird, was denn eigentlich die richtige Entscheidung wäre, und insofern gibt es diesen Zweifel oder diese schwierige Beziehung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft eigentlich immer schon.
    "Wissenschaft produziert nicht die Eindeutigkeit, die die Gesellschaft gerne hätte"
    Götzke: Aber wie erklären Sie sich denn diese Diskrepanz, dass wir uns einerseits gerne als Wissensgesellschaft bezeichnen, aber wissenschaftliche Fakten – zumindest ist es mein Eindruck und auch der Eindruck von vielen Wissenschaftlern, die vor zwei Wochen auf die Straße gegangen sind –, dass diese zunehmend infrage gestellt werden.
    Nassehi: Ich glaube gar nicht, dass sie zunehmend infrage gestellt werden. Ich glaube, es handelt sich eher um ein politisches Phänomen. Wenn Sie sich den politischen Populismus zurzeit angucken, dann ist ja nicht nur Wissenschaft unter Beschuss, sondern auch die "Lügenpresse" – in Anführungsstrichen natürlich –, die Kirchen, die Kunst, die Theater. Man könnte sagen, fast alle Eliten, und das trifft natürlich auch die Wissenschaft. Man würde wahrscheinlich doch nicht behaupten, dass bevor es diese populistischen Angriffe auf Wissenschaft gegeben hätte, das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft so gewesen wäre, dass Ergebnisse eins zu eins umgesetzt werden. Der Science March hat ja bisweilen so ein bisschen auch Wissenschaftskitsch produziert. Wenn man etwa dieses Transparent, was es öfter gegeben hat, zu Fakten gäbe es keine Alternativen, wirklich ernst nimmt, dann fragt man sich, ob es wirklich Wissenschaftler waren, die das herumgetragen haben. Wissenschaft produziert keine Fakten, sondern es produziert unterschiedliche Aussagen zu bestimmten Fakten, und das Interessante an der Wissenschaft ist, dass sie eben nicht die Eindeutigkeit produziert, die die Gesellschaft gerne hätte, und das ist eigentlich der interessante Konflikt.
    Die Gesellschaft, also Politik, auch Ökonomie, bisweilen auch wir Privatleute, hätten gerne eindeutige Erkenntnis. Wissenschaft macht aber eigentlich das Gegenteil. Sie sagt, dass unter bestimmten theoretischen und methodischen Bedingungen bestimmte Ergebnisse erzielt werden können, und diese Schnittstelle, das ist eigentlich das, was mich besonders interessiert, wie wird die eigentlich organisiert. Von einer Wissensgesellschaft können wir in der Tat sprechen, weil Wissen ja tatsächlich überall in der Gesellschaft verwendet wird, aber nicht so, wie die Wissensproduzenten sich das womöglich vorher vorgestellt haben.
    "Was Wissenschaft selbst tut, ist, Fragen zu erfinden"
    Götzke: Also da muss eine andere Brücke, eine andere Transfermöglichkeit gefunden werden aus Ihrer Sicht.
    Nassehi: Ich weiß nicht, ob es eine andere ist, aber man muss zumindest über diese Brücken nachdenken. Ich forsche selbst unter so einem Paradigma wie Übersetzung oder Übersetzungskonflikte. Interessant ist ja die Frage, ob man wissenschaftliches Wissen, ob man wissenschaftliche Erkenntnisse, ob man wissenschaftliche Aussagen etwa in ökonomische, politische, gesundheitsmäßige, auch ästhetische übrigens, Kategorien übersetzen kann, und diese Übersetzungsleistung, das ist eigentlich das, worum es geht. Was Wissenschaft selbst tut, ist, Fragen zu erfinden, das heißt, Fragen zu stellen, die andere womöglich nicht stellen. Ich nenne das selbst so eine Art Abweichungsverstärkung: also was Wissenschaftler ja tun, deshalb hält man sie oft für exzentrisch, das ist, Fragen zu stellen und Probleme zu lösen, die es ohne sie nicht gäbe, und das ist das Besondere, was Wissenschaft tatsächlich tut.
    Natürlich gibt es sozusagen in der Wissensgesellschaft immer die Notwendigkeit, dass diese Wissensformen, dass auch Grundlagenforschung dann angewandt wird, aber diese Anwendung ist eben nicht trivial. Genauso wie es übrigens umgekehrt ist, wenn andere uns Fragen stellen, also uns Wissenschaftlern Fragen stellen, dann werden wir meistens diese Fragen noch mal in wissenschaftliche Fragen übersetzen und beantworten dann diese. Also dieses Verhältnis – Brücke haben Sie mit einer schönen Metapher eigentlich genannt – ist eines, wo sozusagen beide an der Brücke bauen müssen, und dafür wird es keine endgültige Lösung geben.
    Die Transferleistung der Wissenschaftler
    Götzke: Als wir beim March for Science vor zwei Wochen auch mit Hörerinnen über das Thema diskutiert haben, da haben zumindest einige Hörer gesagt, die haben den Wissenschaftlern eine gewisse Überheblichkeit attestiert. Müssen sich Forscher heute vielleicht da auch ein bisschen anders erklären?
    Nassehi: Ja, das müssen sie in der Tat. Also ich glaube, dass es auch eine Aufgabe von Wissenschaft ist, über diese Übersetzungsleistungen, von denen ich gerade gesprochen habe, man könnte sagen, über das Grenzregime zwischen Wissenschaft und dem Rest der Gesellschaft genauer nachzudenken. Also ich als Sozialwissenschaftler muss zum Beispiel eine Idee davon haben, ob ich in der Lage bin, das, was ich sozialwissenschaftlich herausbekomme, anderen Publika gegenüber so verständlich zu machen, dass die etwas damit anfangen können. Das könnte man jetzt auch überheblich nennen, indem ich es verständlich mache. Mit verständlich meine ich nicht, es sozusagen im Niveau zu senken, sondern verständlich heißt, mir vorzustellen, dass andere Akteure keine wissenschaftlichen Probleme lösen müssen, sondern politische oder ökonomische oder medizinische Probleme, und das sind eben andere Probleme, und gerade Wissenschaft müsste eigentlich mit seinem Auflösevermögen und Rekombinationsvermögen in der Lage sein, zu sehen, dass diese Gesellschaft von unterschiedlichsten Perspektiven abhängt. Übrigens macht Wissenschaft das selbst: Theorien und Methoden zu unterscheiden heißt ja, unterschiedliche wissenschaftliche Möglichkeiten und Techniken zu unterscheiden und dann eben zu unterschiedlichen Ergebnissen zu kommen.
    "Der Trend zu Irrationalität ist nicht per se schädlich"
    Götzke: Ich will noch mal ganz kurz auf den Science March kommen: Also da gab es in Deutschland ja viele, die gesagt haben, es gibt da so einen Trend zu Irrationalität, immer mehr Menschen wenden sich esoterischen Dingen zu, glauben an die Kraft von Globuli et cetera als an evidenzbasierte Medizin. Sehen Sie diesen Trend zur Irrationalität auch?
    Nassehi: Ja, es gibt den in der Tat, aber den gibt es auch schon länger, und die Frage ist, woran misst man das eigentlich. Also für den Alltag reichen womöglich weniger evidenzbasierte Typisierungen, wenn sie nur lebbar sind. Also gegen Esoterik ist eigentlich gar nichts zu sagen, wenn sie in solchen Bereichen stattfindet, in denen sie – ich sage das mal etwas flapsig – niemandem schadet, aber wenn das so weit geht, dass es Eltern gibt – solche Meldungen hören wir immer mehr –, die aus irgendwelchen fadenscheinigen Gründen, die eben nicht evidenzbasiert wissenschaftlich begründbar sind, ihre Kinder nicht impfen lassen oder sehr zweifelhafte Ernährungsvorschriften verwenden, dann muss man sagen, da müsste man als Wissenschaftler vielleicht dann schon, oder wenn nicht als Wissenschaftler, dann von der Politik her oder von der Medizin her, viel, viel offensiver tatsächlich auch zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob man eine reine Meinung hat oder ob man Dinge auf Wissen bezieht. Dass der Alltag niemals ein vollständig wissenschaftlich aufgeklärter Alltag sein wird, das ist durchaus ein Segen, aber der Trend zu Irrationalität, den gibt es selbstverständlich, aber der ist nicht per se sozusagen ein großes Problem oder schädlich. Schädlich wird es – wenn ich so tautologisch reden darf –wenn es schädlich wird.
    Götzke: Herr Nassehi, danke für das Gespräch!
    Nassehi: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.