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Diskrete Gravierungen im Mauerwerk von Tunis

Niemals äußert sich ein Volk so authentisch und so unmittelbar wie auf den Wänden in Tunis, findet die in Tunis und Berlin lebende Künstlerin Nadia Kaabi-Linke. Sie sammelt die spontanen Kritzeleien und Einkerbungen und macht sie sichtbar: politische Kommentare, Karikaturen, Flüche, Beleidigungen.

Von Werner Bloch | 21.10.2011
    Wie nah kann man einer Revolution kommen? Kann man sie berühren, ihre Spuren sichern, sie in die Hand nehmen? Es ist genau das, was die Künstlerin Nadia Kaabi-Linke tut. Sie ist die Spurensucherin und Spurenleserin der tunesischen Revolution. Und sie geht vor wie eine Kriminalistin. Der Tatort: Das sind die Mauern von Tunis, Wände von Schulen, Gefängnissen, Regierungsgebäuden.

    "Die Mauer ist ein sozialer Akteur. Besonders bei Gesellschaften wie früher Tunesien oder Ägypten, wo man sich nicht ausdrücken konnte. Das war ein Weg, eine kleine Öffnung."

    In die Wände haben die Tunesier Wörter eingeritzt, Zeichnungen, Sprüche. Nicht grelle Grafitti, sondern diskrete Gravierungen, versteckte Zeichen, die man erst wieder sichtbar machen muss.

    "Ich hab da angefangen mit meiner Serie von Abdrücken, Mauerabdrücken, mit einer Technik, die ich damals entwickelt habe, mit Wachs und Tinte auf Seidenpapier und dann auf Leinwand gebracht. Ich hab viel in den Straßen gearbeitet, das heißt, ich hab sozusagen mein Atelier in der Straße genommen."

    Niemals äußert sich ein Volk so authentisch und so unmittelbar wie auf den Wänden der Stadt, durch spontane Kritzeleien oder durch Einkerbungen. Gerade die Flüche und Beleidigungen, das Vulgäre, der Zusammenprall von Politik, Sexualität und Religion - Ausdruck von Wut, politische Kommentare und Karikaturen - all das interessiert Nadia Kaabi-Linke.

    "Da ist viel passiert mit den Leuten. Mein Hauptmedium war die Bevölkerung.
    Die Leute betrachte ich als Schatz. Im Vordergrund stehen die anderen, die sind mein Material."

    Die Stimmung in der Bevölkerung ist allerdings gekippt. Inzwischen sind viele skeptisch, haben das Gefühl, dass etwas fault ist im Staate Tunesien.

    "Es gibt so viele Fragezeichen jetzt. Man hat fast das Gefühl, es gibt da eine Manipulation. Zum Beispiel man weiß bis heute nicht, wie Ben Ali geflüchtet ist, unter welchen Bedingungen, warum so schnell, wer hat ihn dazu gebracht. Und das sind Fragen, die für die Tunesier nicht beantwortet sind."

    Keiner weiß, wie es weitergeht in Tunesien, sagt Kaabi-Linke. Die Entwicklungen, sind beunruhigend. Im August, während des Ramadan, sei ein großer Teil der Präsidentenfamilie aus der Haft entlassen worden - zu einem Zeitpunkt, in dem das Land weitgehend schläft und jede Aufmerksamkeit fehlt. Die Opfer der Revolution warten bis heute vergeblich auf Hilfe.

    "2Es gibt mehrere junge Leute, die waren verletzt während der Revolution, und es gibt einen, der gestorben ist und es gibt mehrere die jetzt liegen im Krankenhaus, und die Regierung macht nichts, um denen wichtige Operationen zu machen, weil die teuer sind, und die sind am Sterben.""

    Auch die Rolle der Künstler, der Intellektuellen, der Theaterleute ist dramatisch - mehrfach haben Islamisten Künstler angegriffen und Kinos demoliert, die Polizei stand daneben und hat nichts getan. Und doch sei so vieles geschehen seit Januar. Erst durch die Revolution hätten die Tunesier sich selbst entdeckt, sagt sie, ihre Vielfalt.

    "Wir haben sehr lange gelebt - vor Ben Ali schon - mit der Idee, dass wir alle gleich sind. Wir sind alle Muslime, Sunnis, Araber, sehr ähnlich in unserer Tradition. Und jetzt, nach der Revolution, entdecken die Tunesier, dass es nicht nur Islamisten gibt. Die Tunesier entdecken auch, dass es gibt tunesische Christen, die sich freiwillig taufen lassen wollen, und das ist eine sehr große Überraschung für die Tunesier. Diese große Vielfältigkeit, das ist ein großer Reichtum eigentlich, aber es führt auch zu Chaos."

    Was die Wahlen angeht, ist Nadia Kaabi-Linke skeptisch. Die alten Seilschaften seien immer noch an der Regierung; von ihnen könne man nichts erwarten. Und es gebe noch keinen Zeitrahmen, bis wann es zu einer neuen Verfassung kommen muss.

    Aber andererseits gibt es auch diesen Stolz: Dass die tunesische Nationalhymne zu einer Hymne der Freiheit geworden ist, nicht nur in Tunesien, dass sie auch in Ägypten gesungen wird, in Syrien und in China. "Wenn das Volk will, dann muss sich das Schicksal fügen", heißt es in dieser Hymne.