Freitag, 29. März 2024

Archiv

Diskussion in Potsdam
Vom Umgang mit dem Bösen

Wie entsteht Gewalt? Und wo muss man ansetzen, um sie zu verhindern? Im Einstein-Forum in Potsdam haben Sozialwissenschaftler über den Umgang mit dem Bösen diskutiert. Einige fanden die These der Philosophin Hannah Ahrendt, dass das Böse ganz banal daherkomme, nicht ganz zutreffend.

Von Andreas Beckmann | 02.07.2015
    Adolf Eichmann steht am 4. November 1961 umringt von Wärtern vor Gericht in Jerusalem.
    Adolf Eichmann 1961 vor Gericht in Jerusalem (picture alliance / dpa )
    Die Bilder vom Prozess gingen um die ganze Welt. Als er 1961 in Jerusalem vor Gericht stand, wurde Adolf Eichmann für Millionen Fernseh-Zuschauer zum Prototyp des NS-Täters und damit zur Verkörperung des Bösen schlechthin.
    "Die Führerschicht, zu der ich nicht gehörte, hat die Befehle gegeben. Sie hat meines Erachtens mit Recht Strafe verdient, für die Gräuel, die auf ihren Befehl an den Opfern begangen wurden. Aber auch die Untergebenen sind jetzt Opfer. Ich bin ein solches Opfer."
    Eichmann inszenierte sich als Schreibtischtäter, der Millionen in die Gaskammern geschickt habe, ohne jeden bösen Willen.
    "Ich war lediglich ein Werkzeug in der Hand stärkerer Mächte und stärkerer Kräfte und eines unerfindlichen Schicksals."
    Hannah Arendt, eine der bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts, die als Jüdin aus Deutschland hatte fliehen müssen, erkannte in dieser Haltung die "Banalität des Bösen". In ihrem Buch "Eichmann in Jerusalem" zweifelte sie nicht an dessen Schuld und auch nicht daran, dass die Todesstrafe seinen Verbrechen angemessen war. Aber sie glaubte ihm seine Seelenlosigkeit, mit der er sich scheinbar willenlos in die Tötungsmaschinerie der Nazis integriert habe.
    "Eichmann wusste genau, natürlich, was er getan hatte und er wusste, dass es nur eine einzige Möglichkeit gibt, davonzukommen und das ist die, sich kleiner zu machen als man ist."
    2011, 50 Jahre nach dem Prozess, hat die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth in ihrem Buch "Eichmann vor Jerusalem" nachgewiesen, wie sehr dieser SS-Obersturmbannführer Hannah Arendt und die Weltöffentlichkeit getäuscht hatte. An Hand bis dahin unbekannter Eichmann-Aussagen konnte sie zeigen, dass er ein glühender Antisemit gewesen war, der mit großem Einsatz und viel Kreativität die Vernichtung der Juden vorangetrieben hatte.
    "Eichmann ist nicht das richtige Beispiel für die Theorie der Banalität des Bösen. Die Theorie der Banalität des Bösen sagt ja nichts anderes, als dass man das Böse tun kann, ohne es wirklich als Ziel zu haben. Eichmann wusste genau, dass man Menschen verleiten kann, sich an Staatsverbrechen zu beteiligen, auch ohne dass sie überzeugt sind. Er hatte einige Mitarbeiter, die sicher so waren, und er hat ihre Rolle nachgespielt."
    Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt 
    Hannah Arendt (picture alliance / dpa)
    Viele Wehrmachts- und SS-Helfer waren nicht nur Schreibtischtäter
    Damit das Böse in Form des Nationalsozialismus Wirklichkeit werden konnte, mussten zwei Gruppen von Menschen zusammenkommen: Fanatiker wie Eichmann, die die Judenvernichtung zu ihrer Lebensaufgabe gemacht hatten. Und ein Heer von Mitläufern, die gedankenlos Befehle ausführten. Aber waren diese scheinbar ganz normalen Menschen tatsächlich so ahnungslos, wie sie später taten?
    Omer Bartov: "Das vielleicht Empörendste an den Erinnerungen der Täter ist, wie sehr sie ihr Leben in Zeiten des Holocaust genossen haben. Wachmannschaften von Konzentrationslagern wie Soldaten der Wehrmacht haben abends oft musiziert und gefeiert. Viele von ihnen lobten noch Jahre später die gute Kameradschaft von damals und nannten diese Jahre die besten ihres Lebens."
    Die meisten einfachen Befehlsempfänger in Wehrmacht und SS waren keine Schreibtischtäter, sondern durchaus mit dem ganzen Herzen dabei, schlussfolgert der Historiker Omer Bartov von der Brown University in Providence. Viel zu lange habe die Geschichtswissenschaft sie einfach nur als Rädchen im Getriebe angesehen.
    "Jahrzehntelang haben wir immer nur auf die Tötungsmaschinerie gestarrt. Das System der Konzentrationslager, die industrielle Vernichtung von Menschen, das war ja auch etwas ganz Neues, das den Holocaust einzigartig machte. Aber wir haben dabei übersehen, dass die Hälfte der ermordeten Juden nie ein Lager gesehen hat. Sie wurden einfach auf der Straße erschossen, als Baby vom Balkon geworfen oder in ihren Dörfern in eine Scheune getrieben und angezündet. Die wenigen Überlebenden solcher Ereignisse berichten von handfesten Grausamkeiten und nicht von einer Banalität des Bösen."
    Noch bedeutsamer für die Einschätzung des Bösen sei aber ein anderer Aspekt, so Omer Bartov, der sich in den Aussagen vieler Überlebender wiederfinde.
    "Es gab auch etwas Gutes in den Tätern. Leute, die sich immer wieder zu Erschießungskommandos gemeldet oder täglich Menschen an der Rampe selektiert haben, haben in wenigen einzelnen Momenten auch immer mal jemandem geholfen. Das sagen nicht nur sie selbst, dann könnten wir es als Schutzbehauptungen abtun. Das erzählen auch Überlebende, die von Leuten, die ihre Kaltblütigkeit bewiesen hatten, gerettet worden sind."
    Viele Täter konnten also sehr genau zwischen Gut und Böse unterscheiden, auch dann noch, also sie längst Teil der Mordmaschinerie der Nazis geworden waren. Sie konnten also auch jetzt noch im Einzelfall entscheiden, ob sie gut oder böse handeln wollten. Für Bettina Stangneth ist deshalb klar, dass zur Banalität des Bösen auch immer jenes radikal Böse gehört, von dem schon Immanuel Kant gesprochen hat:
    "Kants Begriff vom radikal Bösen ist unverzichtbar, weil Kant nichts anderes meint als, ich kann genau wissen, was richtig ist. Ich kann auch davon überzeugt sein, dass ich das tun sollte, und ich tue trotzdem etwas anderes. Das kann der Mensch, das kann jeder Mensch. Wir sind radikal frei, also nicht radikal gut."
    Wenn der Mensch so radikal frei ist, dann kann er sich aber nicht nur in jeder Situation für das Gute oder Böse entscheiden, er muss es auch. Das Bewusstsein dafür ist sei in den Konzentrationslagern aber nur unter den Opfern ausgeprägt gewesen, erzählt die Historikerin Mary Fulbrook von University College London:
    "Viele Opfer hatten nachher das Gefühl, dass sie mehr hätten tun können und sollen, um ihre Angehörigen oder andere zu retten, obwohl unter diesen Bedingungen hatten sie keine Chance, das zu machen. Oder sie hatten das Gefühl, dass sie was Böses getan hätten, damit sie überlebten, das Brot von dem Nachbarn gestohlen hätten oder so etwas. Während die Täter, die wirklich die Chancen hatten, anders zu agieren, haben nachher gesagt, ich hatte keine andere Möglichkeiten."
    Die Möglichkeit, Schuld von sich zu weisen, sei den Tätern dadurch geboten worden, dass das Terrorsystem der Nazis so arbeitsteilig aufgebaut gewesen sei. So konnte jeder Beteiligte sich einreden, er spiele nur eine ganz kleine, banale Rolle.
    Banalität der Täter statt Banalität des Bösen
    Bei anderen Genoziden, die weniger gut organisiert und viel spontaner abliefen, war das offenbar anders. Das berichtet jedenfalls der Reporter Philip Gourevitch vom Magazin "The New Yorker". Er hat jahrelang in Gefängnissen in Ruanda recherchiert und dabei fast ausnahmslos Männer getroffen, die gar nicht erst versuchten, die ihnen zur Last gelegten Morde zu leugnen.
    "Den ersten Mord hätten sie auf Befehl begangen, sagten mir viele. Sie waren zwar nur einfache Bauern ohne jede militärische Ausbildung. Aber wenn die Anführer ihrer Volksgruppe sie dazu aufforderten, andere zu töten, dann folgten sie ihnen, wenn auch manchmal zögernd. Aber nachdem sie zum ersten Mal getötet hatten, begann es, ihnen Spaß zu machen. Sie fanden es aufregend."
    Statt von einer Banalität des Bösen, meint Philip Gourevitch, solle man lieber von einer Banalität der Täter sprechen. Solche einfach gestrickten, für die Versuchungen des Bösen anfälligen Menschen wachsen allerdings keineswegs nur in Bürgerkriegsregionen oder diktatorischen Systemen heran. Es gibt sie ebenso in so befriedet erscheinenden Regionen wie Europa oder Nordamerika. Andernfalls könnte hier eine Terrororganisation wie der Islamische Staat nicht so erfolgreich Kämpfer anwerben, meint die Politologin Jessica Stern von der Harvard University.
    "Es gibt einen Unterschied zu den Nazis: Die Nazis haben ihren Anhängern gesagt, wir müssen die Juden ausrotten, um unser tausendjähriges Reich aufzubauen. Der Mord war Mittel zum Zweck, und sie haben ihn so gut wie möglich vor der Welt geheim gehalten. Für den IS ist der Mord dagegen Ausdruck ihrer Lebensart. Und die ist offenbar attraktiv für Menschen, die unter uns aufwachsen. Sie wollen für ihre Barbarei gefürchtet und respektiert werden. Sie geben damit regelrecht an."
    Den Islamischen Staat und seine Kämpfer als moderne Form des radikal Bösen zu bezeichnen, sei zwar ein leichtes, meint Bettina Stangneth. Aber Europäer sollten sich hüten, auf andere zu zeigen. Die Mehrheit von ihnen verhalte sich schließlich erschreckend gleichgültig angesichts des massenhaften Sterbens von Flüchtlingen im Mittelmeer, obwohl Europa doch Schutzbedürftigen Zuflucht verspreche.
    "Wenn wir denn für unsere Werte Werbung machen wollen, dann müssen wir den anderen Menschen auch zeigen, dass das ein Konzept ist, was funktioniert. Also müssen wir uns daran halten und bitte nicht nur wenn, es uns etwas nützt."
    Die Flüchtlingsfrage sei ein Beispiel dafür, wie leicht gedankenloses Handeln oder auch Nicht-Handeln etwas radikal Böses hervorbringen könne.
    "Wir brauchen heute eine unbequeme, eine unbehagliche Philosophie, die mehr warnt."
    Das hält Bettina Stangneth für die zentrale Aufgabe einer Philosophie, die aus Hannah Arendts Theorie von der Banalität des Bösen Schlussfolgerungen ziehen will.