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Dokument des Schmerzes

Für ihren Roman "Das Ungeheuer" ist Terézia Mora mit dem Deutschen Buchpreis 2013 ausgezeichnet worden. Sie knüpft damit an ihren vorigen Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" an. Der IT-Spezialist Darius Kopp verlor darin seinen Job und seine Frau. Jetzt kommt es noch schlimmer.

Von Dina Netz |
    Im vorigen Roman "Der einzige Mann auf dem Kontinent" sahen die Leser Darius Kopp eine Woche lang dabei zu, wie sein Leben den Bach runterging: Der Job wurde ihm gekündigt, die Liebe seines Lebens verließ ihn. Schlimmer kann's ihn nicht mehr treffen, dachte man. Oh doch: Im neuen Roman "Das Ungeheuer" hat Flora, Kopps Frau, sich umgebracht, im Wald erhängt. Und wir Leser sehen Kopp nun monatelang beim Trauern zu. Terézia Mora erklärt, warum Darius Kopps Geschichte einen weiteren Roman brauchte:

    "Er ist ja einer, der etwas langsam lernt. Es reicht ihm nicht ein Buch dazu, um von A nach B zu kommen. Im ersten Teil ist er gerade mal ein bisschen weg von A gekommen, an das er sich krampfhaft geklammert hat. Dieses 'Ich will nichts erkennen, ich will mich nicht bewegen, ich bin bequem, ich bin faul, das ist doch alles gut so, wie es ist' - also im Grunde ist er so eine Art Oblomow. Ich wollte ihm, so wie ich jedem lebendigen Menschen das gönnen würde, die Chance geben, eine Tiefe zu bekommen."

    Und, so viel verrät Terézia Mora schon, er wird noch mehr Chancen bekommen, denn die Darius-Kopp-Romane werden sich zu einer Trilogie auswachsen.

    Aber jetzt zum aktuellen Buch "Das Ungeheuer". Im Gegensatz zum vorigen Roman, in dem Kopp seltsam gleichmütig blieb, ist er diesmal zutiefst erschüttert und steckt in einer Sinnkrise. Das erste Jahr nach Floras Tod hat Kopp allein in seiner Wohnung verbracht.

    Er hatte ein System entwickelt, das es ihm erlaubte, niemals hinausgehen zu müssen. Das System war von genialer Einfachheit, es umfasste nur einen einzigen Punkt, nämlich: etwas zu essen und zu trinken zu besorgen. Was das anbelangt, bin ich ein mehr als einfacher Fall. Er bestellte immer nur Pizza, immer von demselben Lieferanten und immer stur die Speisekarte herunter. Von Margherita bis Speciale, 24 Sorten, immer von vorne nach hinten.

    Kopps Freund Juri hat sich das nach einer Weile nicht mehr ansehen können, Kopp bei sich zu Hause einquartiert und versucht, ihm einen Job zu beschaffen. Als Kopp sein erstes Vorstellungsgespräch hat, wird ihm klar, dass er noch längst nicht fertig ist mit seiner Trauer und nicht einfach wieder zurückkehren kann in das, was vom früheren Leben noch übrig ist. Er lässt sich Floras Tagebuch aus dem Ungarischen übersetzen, setzt sich ins Auto und fährt los – zunächst nach Ungarn, auf Spurensuche. Dorthin lässt er sich sogar die Urne nachkommen

    Doch immer, wenn Darius Kopp sich auf seiner Reise Einsichten oder auch nur Trost erhofft, wird er enttäuscht. Selbst einen Ort für Floras Asche findet er nicht, reist mangels anderer Ideen immer weiter durch Süd-Ost-Europa. Meist lässt er sich treiben von den Plänen von Zufallsbegegnungen, die ihm eine Weile Gesellschaft leisten. Die Stationen sind zahllos, darunter die Ferieninsel seiner Kindheit, ein heruntergekommener albanischer Badeort, ein bulgarisches Kloster, ein georgischer Puff. Das Reisen, so scheint es, ist Kopps Versuch, sich selbst zu entkommen.

    "Woraus besteht Reisen oder Suchen häufig? Daraus, dass du fünf Tage vollkommen nutzlos irgendwo verbringst und versuchst, eventuell, so wie er es macht, eine Strategie zu entwickeln. Und deine Strategie wird versagen. Weil das manchmal so ist, oder es gibt so viel Leerlauf, es passiert nichts während Reisen. Ich finde das übrigens toll. Ich bin fasziniert von Zeit, von Darstellung von Zeit in der Kunst. Und zwar von der Zeit, die sich so unergiebig zeigt, weil das Meiste in unserem Leben unergiebig ist. Es ist nun mal so, dass wir unser gesamtes Leben verbringen müssen, bevor wir manche Dinge erreichen. Und dass wir manches auch nicht beschleunigen können. Und besonders nicht, wenn wir Darius Kopp sind."

    Von dem Moment an, als Darius Kopp losfährt, wird Terézia Moras Roman zweistimmig: Auf der oberen Hälfte der Seite erzählt Kopp von seiner Reise, erinnert sich an seine Zeit mit Flora und wie sie ihm langsam entglitt. Unten auf der Seite, getrennt durch eine Linie, gibt Mora Floras Tagebücher wieder. Man muss als Leser selbst ein System entwickeln, wie man die Texte liest, was nicht ganz einfach ist, da Absätze, Kapitelenden nicht übereinstimmen.

    "Parallel würde ich nicht lesen. Deswegen haben wir auch zwei Lesebändchen, damit ich das eine bei Darius, das andere bei Flora reinlegen kann. Meine Vorstellung war natürlich - deswegen sind die Kapitel auch nummeriert: Wenn ich sie nummeriere, dann gibt es eine Reihenfolge. So sehe ich das."

    Mora schafft mit dieser Doppelstruktur ein eindrückliches Dokument des Schmerzes: Oben leidet Darius an Floras Abwesenheit, unten Flora an ihrer Anwesenheit. Die Linie, die Orpheus und Eurydike trennt, bleibt unüberwindlich.

    Floras Tagebücher enthalten Dokumente ihrer Verletzlichkeit: Erinnerungen an die Grausamkeiten in ihrer Familie, verstörende Träume, kurze Gedankensplitter oder längere allgemeine Reflexionen und zum Ende des Romans hin zunehmend die Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit. Terézia Mora hat lakonische, beeindruckend genaue Worte für die Empfindungen einer Depressiven gefunden:

    Ob mit oder ohne Medikamente drei bis vier Episoden im Jahr. Es nimmt bereits mehr als die Hälfte des Jahres in Anspruch. Im Grunde ist es permanent. Es gibt nichts anderes mehr. Ich erwache weinend, ich gehe weinend durch den Tag, ich schlafe weinend ein, ich weine im Schlaf. Womit habe ich das verdient? Mit gar nichts. Man verdient das ebenso wie Krebs oder andere Leiden: mit gar nichts. Es gibt kein Ausgewähltsein. Wer soll dich auswählen. Da ist niemand. Niemand ist da. Die Krankheit und du. Du und du. Der du dich aus dem Fenster stößt. Der du dich am Rahmen festhältst, um nicht zu fallen.

    "Sie hat nicht gut für sich gesorgt. Das Traurige ist, was ich sehe, dass ich ziemlich viele Leute kenne, die so sind und dass es sehr häufig Frauen sind. Zum Schluss hin entfernt sie sich immer mehr von der Normalität. Am Anfang zum Beispiel, wenn wir diese Figur betrachten, wenn ich daran zurückdenke, wie wir als Studentinnen waren und wie viele junge Frauen ich kenne, die aus unerfindlichen Gründen sich vergeudet haben oder ihrer eigenen Schwäche anheimgefallen sind, wo man sich fragt, warum nur? Das gibt es ziemlich häufig: talentiert zu sein und schlau zu sein und dann nichts für sich zu tun. Als hätte man Angst davor, es zu schaffen, als hätte man Angst vor Erfolg. Als könnte man es nicht mehr vertreten, während man es vertreten kann, irgendwelche zerstörerischen Affären zu haben. Als Mutter einer Tochter muss ich sagen, ich musste darüber etwas nachdenken."

    Wie Darius Kopp auf die Lektüre von Floras Tagebuch reagiert, erfahren die Leser nur sehr allgemein. Kopp ist mehr mit den täglichen Anforderungen seiner Reise beschäftigt. Unter dem Vorwand, die Urne noch bestatten zu müssen, bleibt er immer in Bewegung – kurioserweise genau so wie Flora, die das Leben nur bei körperlicher Aktivität ertrug.

    Moras Reisebeschreibungen sind bildreich, absichtsvoll klischeebeladen, skurril – und dennoch tut man sich irgendwann schwer, ihrem Protagonisten mehr als nur mit losem Interesse zu folgen. Das hat wohl damit zu tun, dass um Kopp herum allerlei passiert, mit ihm selbst allerdings fast oder gar nichts. Zudem ist Moras Erzählung fast gänzlich frei von dramatischen Zuspitzungen.

    Natürlich braucht die Trauer um eine große Liebe ihre Zeit. Aber ein bisschen lang wird sie einem beim Lesen leider doch. Trotzdem ist "Das Ungeheuer" ein eindringlicher Roman über den Schmerz.

    Mora hat aber keine Suada der Bitterkeit geschrieben, ihr Buch ist oft komisch oder sogar grotesk, zumal Darius Kopp selten die Selbstironie verliert. Beim Blick in den Spiegel sieht er zum Beispiel...

    ...die Kreuzung zwischen einem blonden, stupsnäsigen Jungen Mitte 40 und einem Reptil.

    Sprachlich und stilistisch ist "Das Ungeheuer" fast unheimlich souverän. Selbst bei fast 700 Seiten Text merkt man, dass Terézia Mora jedes Wort gründlich gewogen hat. Immer wieder fällt Darius Kopp, der in der ersten Person erzählt, ein Erzähler in der dritten Person ins Wort – so als wisse er es besser, da Kopp sich ja ohnehin fremd geworden ist. Aber selbst dieser gerissene literarische Kniff fällt einem irgendwann gar nicht mehr auf, weil Terézia Mora so eine elegante und gelassene Erzählerin ist.

    Terézia Mora: "Das Ungeheuer"
    Roman; Luchterhand Literaturverlag, München 2013; 688 Seiten; 22,99 Euro