"Ich muß sagen, das Buch spielt ja mit Stilen, das ist eine Eigenart meiner Schreibweise" so Tim Krohn, "daß ich mir Stile aneigne, die auch wieder was erzählen über den Stoff hinaus. Es wird teilweise im Ton von Swift, sogar mit Swift-Material geschrieben. Dann schreibe ich auch natürlich in einem Frisch-Stil oder auch in eine Boulevard-Theaterstil andere Passage. Es wird da wild gemixt. Frisch ist aber natürlich für mich ganz, ganz wichtig. Formal ... ich finde ihn formal gerade in den Tagebüchern absolut schräg und mutig und verspielt - verspielt ist ein zentrales Wort bei mir - und ist auf jeden Fall der wichtigste Schweizer Autor überhaupt. Und sicher einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren, gerade wenn es um die Reflexion Europas geht in den Tagebüchern. In diesem Buch war es spannend, es ist ja ein Buch, das ein Europa der neunziger Jahre darstellt, zu sehen, wie sehr sich das verändert hat seit Frisch. Es werden immer wieder Frisch-Passagen aus der Zeit direkt nach dem zweiten Weltkrieg zitiert und Passagen gegenübergestellt, die Deutschland vor allem in den neunziger Jahren beschreiben. Und da sieht man, wie sich sehr, sehr vieles nicht verändert hat. Und das ist spannend genug."
Spannung freilich ist einer der Pferdefüße dieser Drosa, nämlich der nicht ganz überzeugenden Kreuzung zwischen Drama und Prosa. Zunächst preßt Tim Krohn ein komplettes Theaterstück zwischen zwei Buchdeckel und präsentiert den Dreigroschenstoff als Groteske über die Treuhand in den neuen Bundesländern. Was auf der Bühne Wirkung entfalten mag, ist als Lesestoff eher grob geschnitzt. Rhetorik über den Haifisch-Kapitalismus, nicht unintelligent, aber auch nicht berauschend. Zweiter roter Faden sind die Tagebuchaufzeichnungen des Schweizer Autors während eines Stipendiums im Literarischen Colloquium in Berlin 1995. Hier klappt der Kunstgriff der Rollenprosa nicht, keine Sekunde lang nimmt man den Aufzeichnungen ab, daß sie von Polly Peachum - in diesem Fall einer jungen Schweizer Schriftstellerin - geschrieben sein sollen. Denn so eindeutig männlich wie sich Frisch in seinen Tagebüchern geriert, so eindeutig eifert ihm Krohn nach; die weibliche Fiktionalisierung geht nicht auf. Schließlich gibt es noch eine Rahmenhandlung im Theater - natürlich rund um eine Dreigroscheninszenierung -, die aber über weite Strecken verschwindet und erst am Schluß des Buches wieder aufgenommen wird. Verwirrend all dies, und manchmal auch ärgerlich, weil Krohn - als Erbe Brechts und der Moderne - Identifikation nicht leiden kann: "Über meine Art zu schreiben ... da steckt eine sehr, sehr große Theorie dahinter. Das ist natürlich eine hoch postmoderne Literatur. Ich glaub nicht an so was wie Individualität, und das interessiert mich auch überhaupt nicht. Sicherlich bin ich nicht verwechselbar in der Art, wie ich Stile verwende. Daß ich aber Stile von anderen Leuten verwende, hat unheimlich viel mit der Zeit, in der wir leben, zu tun. Es ist absurd, nach einem unverwechselbaren, identischen, persönlichen Ausdruck zu suchen in einer Zeit, in der es eigentlich nur noch darum geht, zu surfen und sich durch die Lebensnotwendigkeiten zu schleusen, zwischen einander absolut widersprechenden Systemen zu pendeln, und ich glaube, es geht nur noch darum, in dieser Zeit mit diesen Kontexten, die wir nicht wählen können, einfach zu spielen, so spielerisch wie möglich sich durchs Leben zu schlängeln."
"Selbst der intelligenteste Text", schreibt Polly Peachum alias Stipendiat Krohn anläßlich der Lesung einer Mitstipendiatin am LCB, "selbst der intelligenteste Text, wenn offensichtlich ist, daß er nur geschrieben wurde, damit eine sich und die Umwelt ihrer Intelligenz versichern darf, verdirbt mir die ganze Freude am Lesen." - Manchmal sprechen Autoren die Wahrheit, ohne zu merken, daß sie sich gegen sie selbst richtet. Die Konstruktionsintelligenz, die Tim Krohn in seinem "Dreigroschenkabinett" verbraucht, schlägt sich nicht positiv auf der Seite des Lesers nieder. Ob falscher Ehrgeiz oder Angst vor persönlicher Aussage - erträglich ist das Buch nur da, wo es auf allen Formalismus verzichtet, und der Autor hinter seinen überflüssigen Maskierungen hervortritt. Tim Krohn, geboren im Westfälischen, aufgewachsen im schweizerischen Glarus, hat die Irritationen einer deutsch-schweizerischen Biographie überdeutlich am eigenen Leib erfahren: "Bei mir sitzen sie natürlich unheimlich tief. Und ich habe eigentlich erst, als ich in Deutschland gelebt hab nach 30 Jahren, ich hatte nie in Deutschland gelebt, und als ich mit 30 nach Deutschland kam und da leben wollte und immer gelernt hatte ‘Ich bin ein Deutscher’ in der Schweiz - und in der Schweiz auch so behandelt wurde - habe ich plötzlich gemerkt, wie absolut fremd mir Deutschland ist. Das heißt ich hab ein Deutschland tief in mir drin, aber das ist das Deutschland meiner Eltern, das eben auch seit dreißig Jahren vorbei ist. Das merke ich in meiner Sprache, das merke ich in der Art, wie ich auf Leute zugehe oder mit Leuten umgehen will, die einfach völlig anachronistisch ist. Und gleichzeitig habe ich gemerkt, wie einfach es in der Schweiz ist, als Ausländer zu leben, weil man doch eine gewisse Distanz hat, die nicht immer gut ist. Also man hat immer die Tendenz zu sagen: Naja, ich bin ja doch kein Schweizer, also kann ich mich doch davon distanzieren. Und in Deutschland dasselbe, ich kann sagen: Ja gut, mit diesem Deutschland hab ich nichts zu tun. Und es ist ganz, ganz schwierig, sich doch soweit mit einem Land zu identifizeren, oder mit einer Gesellschaft zu identifizieren, daß man eine Verantwortung übernimmt dafür."
Da schließt sich der Kreis, und die ungewöhnlichen Vorbilder des zweiunddreißigjährigen Autors werden plausibel. Fremd sein im eigenen Land, das galt für beide, für Brecht wie für Frisch. Und beide haben ein ähnliches Mittel gegen die Isolation gefunden: Nicht sie, sondern das Land muß sich verändern. "All die Schriftsteller, die ich in letzter Zeit kennengelernt habe, die sind alle aus irgendwelchen Randgruppen", so Krohn. "Und versuchen verzweifelt, irgendwo mit diesem Randgruppendasein den Kontakt zur Gesellschaft nicht zu verlieren. Und das passiert natürlich am leichtesten über Kritik. Gottseidank - ich will mich nicht einfach blindlings identifizieren. Es gibt auch Leute, die sich überassimilieren und alles toll finden. Ein anderer Weg ist wirklich einfach, sich einer Gesellschaft über die Kritik zu nähern."