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Druck im Kopf

Eine Uraufführung krönt die Kooperation der Oper Kiel mit dem spanischen Altmeister-Komponisten Cristóbal Halffter: Die Stefan-Zweig-Adaption "Schachnovelle" handelt von Widerstand und Wahn – und offenbart das Schachspiel als wahren Kampfsport.

Von Frieder Reininghaus | 19.05.2013
    Cristóbal Halffters Tonsprache hat sich in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts ausgeprägt und geschärft in Opposition zum Franco-Regime, das – wie die anderen totalitären Systeme in der Mitte des 20. Jahrhunderts – die konstruktive musikalische Moderne unterdrückte. Die Schreibwiese des Madrider Komponisten ist sich in diesen sechs Jahrzehnten, bei mancher Weiterentwicklung im Detail, prinzipiell treu geblieben. Die Fließgeschwindigkeiten und feinen Färbungen des Tonsatzes, der zuvorderst seinen eigenen Gesetzen und Regeln folgt, korrespondieren freilich der Textvorlage und insbesondere deren psychischen Konstellationen.

    Am hörbarsten knüpft Halffter an Alban Bergs Opern an – bis hin zu einem symphonischen Satz, der die Sphären der alten und neuen Welt voneinander trennt, und bis zu der travestierenden Weise, in der er so etwas wie eine osteuropäische Nationalhymne in seinen Tonsatz integrierte, mit der die Schiffskapelle den Schachweltmeister Czentovic begrüßt. Des Weiteren vermeidet Halffters Musik Plakatwirkungen weitgehend, so signifikant er die Gesangspartien rollentypisch grundiert. Der Gestapo-Offizier allerdings, der die Verhöre führt, indem er monologisiert und droht, sieht (in Gestalt von Michael Hofmeister) nicht nur aus wie ein nachgedunkelter Schrumpfarier vom Schlage des Dr. Goebbels, sondern er countert grell-grotesk: Halffter schrieb eine Extrempartie für die Ungeheuerlichkeiten der staatlichen Verwerflichkeit.

    Überhaupt sind die Typen scharf gezeichnet. Die Krankenschwester, die Dr. B. auf der Schiffspassage begleitet, bringt in einem männerdominierten Stück den Ton weiblicher Fürsorglichkeit auf. Heike Wittlieb interveniert ganz im Sinn dieser Partie. Die Kieler Oper hat die mehr als zwei Dutzend Rollen mit Mitgliedern des Ensembles besetzt. Allen voran stellt Jörg Sabrowski die Leistungsfähigkeit unter Beweis. Indem er von der Maske wie der alternde Hofmannsthal aufbereitet wurde, verleiht er der Rolle des Anwalts Leo Berger nicht nur Autorität und Würde, sondern den in die Schluss-Szene einmontierten Appellen für ein Leben der Menschenwürde und des Geistes Nachdruck und Glaubwürdigkeit.

    Anders als Stefan Zweig, der im Februar 1942 in Petrópolis durch Suizid starb, überlebt der Protagonist der von Cristóbal Halffter komponierten Oper die Folgen des "Anschlusses" von Österreich ans Deutsche Reich, den zweiten Weltkrieg und die Flucht. Dr. Berger kehrt in die österreichische Hauptstadt zurück und steigt im Metropol ab, das – nachdem es zwischenzeitlich als Gefängnis für Männer der konservativen Opposition gegen die NS-Herrschaft genutzt wurde – wieder Hotel ist. Der Raum, wie zuvor nur mit einer Liege und einem Stuhl möbliert, ist nun mit Büchern bestückt: Das, was Dr. B. nach seiner Verhaftung so sehnlich vermisste, hat wieder Einzug gehalten. Das ist fürwahr ein lieto fine, wie es im zeitgenössischen Musiktheater rar geworden ist.

    Norbert Ziermann hat für die rasch wechselnden Szenen eine praktikable Einfach-Ausstattung entworfen, die die wechselnden Räume im Hotel und auf dem Schiff und eine aus dem Grau der Geschichte auftauchende frühere Zeit andeutet. Hinter durchscheinender Wand lässt Regisseur Daniel Karasek den Chor der Schachgeister antreten, dessen Mitglieder die gleichen Armbinden und Abzeichen tragen wie die anderen Peiniger. Das äußerlich so ruhige Schachspiel ist in besonderer Weise ein Kampfsport – und er kann im Kopf einer geschundenen Kreatur die heftigsten Überlagerungen auslösen: Kampf der Geister gegen den Geist.