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"Du lässt Fremde zu Freunden werden"

Die Autobiografie "Tanz um dein Leben" lässt einen den Schlaf vergessen und überraschend die Augen reiben - darüber, was Kunst gesellschaftlich bewirken kann. Royston Maldooms Buch macht Träume wahr.

Von Annette Brüggemann |
    "Wann schreibst du endlich deine Lebensgeschichte auf?, haben mich viele Menschen gefragt. Für andere scheint sie eher ungewöhnlich zu sein, auch wenn ich sie ziemlich normal finde. Durch den Kinofilm 'Rhythm is it' ist das Bild entstanden, besonders in der Tanzwelt, ich sei einfach aufgekreuzt und hätte diesen Film gemacht. Es gibt Stimmen, die sagen: Du hast Glück durch deinen erstaunlichen Erfolg mit 'Rhythm is it'. Und da habe ich gedacht, es wäre ganz gut, diesen Leuten zu erzählen, dass dieser Erfolg nach 35 Jahren harter Arbeit eingetroffen ist. Darunter Jahre, in denen meine Arbeit keine Anerkennung fand, Jahre, in denen ich wenig Geld hatte, die ein echter Kampf waren. Ich möchte Menschen mit meinem Buch ermutigen, weiterzumachen, einfach weiterzumachen ..."

    Royston Maldoom ist ein leidenschaftlicher Pionier mit Underdog-Qualitäten. Für ihn ist Kunst universell und der Tanz ein Modell für eine demokratische, friedliche Gesellschaft. Mit dem Film- und Tanzprojekt "Rhythm is it!" rückte der Choreograf 2004 ins Scheinwerferlicht der deutschen Öffentlichkeit. Seine kühne These "You can change your life in a dance class" hat er seitdem in zahlreichen Projekten unter Beweis gestellt.

    Doch bereits seit 35 Jahren arbeitet er mit Menschen am Rande der Gesellschaft, mit geistig behinderten Kindern und Erwachsenen, Jugendlichen ohne Zugang zum gängigen Bildungssystem und Straßenkindern. Sein persönlicher Einsatz hat ihn über ganz Großbritannien und Nordirland, bis nach Osteuropa, Südamerika und Afrika geführt. Unvergesslich die Szenen aus "Rhythm is it", in denen er 250 jungen Menschen klar macht, dass er für die Aufführung von "Le Sacre du Printemps" ihre volle Kooperation braucht. Von Lehrern verlangt er, ihren Schülern mehr zuzutrauen und ihre Grenzen zu erweitern – mit Disziplin, Hingabe und Konzentration. "Fokus" heißt das Zauberwort – Minuten der Stille vor jeder Probe. Royston Maldoom ist streng, er lässt keinen aus der Verantwortung – vor allen Dingen nicht sich selbst.

    Royston Maldooms künstlerischer Anspruch führt ihn nach "Rhythm is it" an eine Hauptschule in Potsdam, die den Ruf hatte, viele Problemkinder zu haben, die Schließung stand kurz bevor. Nicht nur die Schüler der Hauptschule sollen teilnehmen, sondern auch Schüler mit Lernbehinderungen und Jugendliche aus einem Projekt für Schulschwänzer. Diese sehr unterschiedlichen Teilnehmer zu einer Gruppe zusammenzuschweißen, ist Herkulesarbeit, bis zur Heiserkeit unterrichtet Maldoom. Lautstärke Abgänge mitten in den Proben sind an der Tagesordnung. Einem Skinhead, der zunehmend frustrierter wurde, weil es ihm nicht gelang, die ganze Gruppe zum Abbrechen der Proben zu bringen, gibt Royston Maldoom einen Solopart – er würde die Rolle eines Opfers tanzen in einem auf dem Holocaust beruhenden Stück. Als der Schüler mitteilt, dass er nicht mehr mittanzen wird, ersetzt ihn Royston Maldoom ohne Umschweife. Ein Schock. Nach ein paar Tagen kehrt der Schüler zurück und bittet darum, wieder dabei sein zu dürfen. Maldoom erlaubt ihm, als Beobachter teilzunehmen.

    Die Hauptschule in Potsdam gibt es heute nicht mehr. Dafür ist eine Grundschule entstanden, die rund hundert Kinder besuchen. Eine klassische Lehre wurde mit Reformansätzen verbunden, zu denen auch Tanz, Theater und Zirkus gehören. Eltern aus der ganzen Umgebung, sogar aus Berlin, haben ihre Kinder in der Schule angemeldet.

    "Das Großartige am Tanz ist: Wenn du die Haut eines Menschen berührst, berührst du ihn selbst. Hast du jemanden wirklich berührt, wird es dir fortan sehr schwer fallen, diesen Menschen in einem fremden Licht zu sehen. Du kannst nicht mehr zurücktreten und ihn als einen Anderen wahrnehmen. Im Tanz lernen wir miteinander zu leben, einander zu unterstützen, den zur Verfügung stehenden Raum auszuhandeln, die Choreografie umzusetzen ohne Wettbewerbsgedanken. Das würde dich nur zurückwerfen, denn du bist Teil der Idee, Teil der Aufführung und willst, dass es gut wird. Und das wiederum hängt vollkommen davon ab, wie gut du mit anderen kooperierst, mit wie viel Vertrauen und Genauigkeit. Deshalb ist Tanz ideal, wenn es um Integrationsfragen geht. Wobei ich jedes Mal sage: Ich integriere niemanden. Würde ich das tun, hätte ich schon eine Schranke im Kopf. Tanz bietet - wenn es die richtige Person leitet - einen sicheren Ort. Einen Ort, an dem Menschen sich von selbst integrieren und zwar sehr schnell. Schaffst du es, die körperlichen Grenzen, die uns behindern, aufzuheben, bist du in einer echten empathischen Situation. Du lässt Fremde zu Freunden werden."

    Wo Royston Maldoom Empathie gelernt hat, zeigt seine Autobiografie eindrücklich. Seine Kindheit in einem Waisenhaus, das tief eingebrannte Gefühl, keinem Erwachsenen trauen zu können, hat er nicht verdrängt, vielmehr ist diese Erfahrung zu einem starken Gespür in seiner Arbeit mit Menschen geworden. Royston Maldoom erzählt in seiner Autobiografie offen von der Suche nach sich selbst.

    Er erzählt von seinen orientierungslosen Jahren als Landwirt, wie er mit 22 Jahren per Zufall Nurejew im Fernsehen sieht und fortan weiß, dass er tanzen will.

    Und auch wenn sein Alter und sein kleiner, kräftiger Körper eine Karriere als Tänzer erschweren, Royston Maldoom setzt alles auf eine Karte. Er schafft den Sprung zum Choreografen mit einem Stipendium beim Royal Ballet, choreografiert am Alvin Ailey American Dance Center und dem Dance Theatre of Harlem in New York, doch der Erfolg füllt ihn nicht aus. 1978 ziehen sein Freund Glynn und er als erstes schwules Paar in ein kleines schottisches Dorf mit dem schönen Namen Auchtermuchty. Royston Maldoom möchte eine Auszeit nehmen, doch ein Projekt wird sein Leben verändern.

    "Wenn ich mir heute ansehe, wer ich bin und wie ich arbeite, war die Zeit in Schottland die wichtigste in meinem Leben. Das war eine so pure Chance – ohne eigene Wünsche oder Vorstellungen – gefragt zu werden, ob ich eine Gruppe nicht-professioneller Tänzer unterrichten würde. Und zwar eine Tanzklasse jede Woche in einem Gemeindezentrum. Ich habe das nur widerstrebend angenommen, sah überhaupt keinen Sinn darin, obwohl ich ein sehr politischer und sozial engagierter Mensch war. Und plötzlich tat sich mir eine Welt auf. Ich hatte meinen Platz im Tanz gefunden."

    Die Arbeit mit Laien – Community Dance - lässt Royston Maldoom um die Welt reisen. Er tanzt mit Menschen aus Bosnien und Kroatien während des Balkankriegs. In Nordirland bringt er protestantische und katholische Jugendliche zusammen. In Südafrika stellt er ein multikulturelles Projekt mit 200 Tänzern auf die Beine. Er tanzt mit Kindern und Jugendlichen in Peru und entwickelt in Äthiopien mit Straßenkindern eine Choreografie für "Carmina Burana". Dort gründet er auch die "Adugna Community Dance School" - aus der ausgebildete Choreografen und Choreografinnen aus Addis Adeba hervorgehen.

    Die Langfristigkeit von Projekten in Deutschland und Österreich stand vor allem in den letzten Jahren auf der Agenda. In Ostwestfalen hat er mit Unterstützung der Peter Gläsel Stiftung und Kolleginnen wie Tamara McLorg und Janice Parker ein Projekt entwickelt, das den bisher ersten "Dance-Artist-In-Residence" Deutschlands hervorgebracht hat. Eine Erfindung nach schottischem Modell. Andreas Wegwerth wird als Tänzer und Choreograf auch in Zukunft Tanz mit Laien in der Region fördern.

    Die Autobiografie "Tanz um dein Leben" lässt einen den Schlaf vergessen und überraschend die Augen reiben - darüber, was Kunst gesellschaftlich bewirken kann. Royston Maldooms Buch macht Träume wahr und zeigt, dass Visionen kein esoterischer Humbug sind, sondern purer Ernst.

    Gemeinsam mit seiner Co-Autorin Jacalyn Carley hat Royston Maldoom einen guten Ton gefunden. Das Buch wechselt ab zwischen dokumentarischen Szenen und philosophischen Reflexionen, die das Geheimrezept Royston Maldooms für jeden greifbar machen.