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Ehrenrettung für die alexandrinische Dichtung

Spätantike Literatur, mit ihren Hymnen auf Herrscher und Götter oder ihren Totenklagen auf längst verstorbene Dichter, wurde lange Zeit nicht besonders wertgeschätzt. Friedrich Schlegel warf den Dichtern vor, eine verstandesmäßige, trockene Dichtung zu schreiben, die Werke der hellenistischen Epoche seien "ohne inneres Leben, Schwung und Größe".

Von Andrea Gnam | 19.11.2007
    Solche Urteile müssen nicht unbedingt den historischen Texten gerecht werden. Sie sind zeitspezifisch und immer wieder kommt es zu Revisionen und Neuentdeckungen des Überlieferten. Spätestens seit Nietzsche wissen wir, dass sich jede Zeit ein eigenes Bild "ihrer" Antike geschaffen hat, um sich von ihr abzugrenzen oder sich auf eine Richtung, eine favorisierte Perspektive zu berufen. Gyburg Radke hat sich mit ihrer Studie "Die Kindheit des Mythos. Die Erfindung der Literaturgeschichte in der Antike" daran gemacht, die spätantike Literatur, die sogenannte alexandrinische Dichtung, von ihrem Ruf des Epigonalen zu befreien und damit nicht nur ihre Ehrenrettung vorzunehmen, sondern auch zu einer grundsätzlichen Umwertung aufzurufen.

    Bereits die spätantike Literatur hat das Gleiche unternommen, wie viele Epochen nach ihr auch: Sie hat sich eine eigene Antike in ihren Dichtungen entworfen. Hierin sieht Radke eine grundsätzliche Modernität, einen avantgardistischen und radikalen Anspruch. Wie alle modernen Avantgardebewegungen grenzen sich die spätantiken Dichter - so Kallimachos, Theokrit und Apollonius - von ihren Vorgängern ab. "Die Dichter werden neu erschaffen als vergangene Dichter", schreibt Gyburg Radke. Wenn sie den Tod der Vorgänger in Epigrammen beklagen, statten hellinistische Autoren in diesen späten Nachrufen die hinter sich gelassenen Dichter mit wieder erkennbaren Attributen aus: Den liebestrunkenen Anakreon etwa sieht man inmitten von rankenden Weinreben lagern. Der Invektivendichter Hipponax wird zu einer Wespe, die jeden Moment aus dem Schlaf geweckt und wieder zustechen könnte. So entstehen vor dem Auge des Lesers Stimmungsbilder der Vergangenheit, die mit der bildlichen Vorstellung von der Dichterpersönlichkeit auch sein Werk verkürzen, typisieren und emotional aufladen.

    Soll aber dem eigenen Dichten ein Standort angewiesen werden, tun dies die Hellenisten in einer besonders raffinierten Weise: Sie grenzen sich von der Tradition der von Homer und Hesiod erzählten mythologischen Handlungen ab, indem sie über eine Zeit schreiben, die vor Homers und Hesiods erzählerischem Kosmos situiert ist. In dieser Zeit waren Zeus, aber auch sein Sohn Apoll oder der starke, aber belächelte Herakles noch Kinder - und die spätantiken Dichter machen von ihrer Freiheit Gebrauch, diese Kindheiten in neuen Bildern so zu erfinden, wie sie ihnen von ihrem gegenwärtigen, spätantiken Standpunkt aus gesehen und ihrem neu gewonnenen Selbstverständnis als Dichter gelegen kommt.

    Im berühmten "Hymnos auf die Insel Delos" von Kallimachos zum Beispiel wird erzählt, wie Leto, Zeusgeliebte und werdende Mutter des Apoll, einen Platz zum Gebären sucht. Hera, die betrogene Gemahlin des Zeus, aber hat Bergen, Inseln, Städten und Flüssen unter Androhung harter Strafen verboten, die kreißende Konkurrentin aufzunehmen. So setzt eine allgemeine Fluchtbewegung ein: Berge, Städte, Flüsse und Inseln fliehen vor der Schwangeren, die mit ihrem Ungeborenen eine ganze Landschaft in Bewegung versetzt. Die Insel Delos schließlich nimmt Leto auf. Der Musengott Apoll weissagt noch im Mutterleib die Geburt des späteren Herrschermäzens Ptolemaios auf der Insel Kos, der seinerseits die alexandrinische Dichtung fördern wird.

    Die Erzählsituation selbst werde, so Radke, in diesen und anderen Werken von Kallimachos reflektiert: Die empirische und begriffliche Wirklichkeit weiche der vom Dichter geschaffenen Welt, ja, die "Schwäche der historischen Realität" werde gegenüber der "Gewalt der Dichtung thematisiert" - ein durch und durch modernes Unterfangen sei da im Gange. Ähnlich aber wie die spätantiken Dichter, die das Neue für sich reklamieren, indem sie das Alte nach ihrem Bild formen, verfährt Gyburg Radke. Vehement meldet sie ihren Anspruch an, die Literaturgeschichte mit dieser Analyse neu zu schreiben. Sozialwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Ansätze werden zurückgewiesen, markant wird gedroht, man laufe, schließe man sich dieser Sicht des Hymnus nicht an, in Gefahr "die radikale Innovation zu übersehen oder unter einer Vielzahl von Einzeldeutungen zu verschütten".

    Mit über vielen Zeilen mäandernden Schlüssen, die einem "wenn aber" ein unerbittliches "dann aber muss auch" folgen lassen, wird die rhetorische Fuchtel über dem ob soviel Spröde und erdenschwer lastender Beweislage bald eingeschüchterten Leser geschwungen. "Nur so erweist sich ... nur so entsteht" heißt es immer wieder - und wäre man ein spätantiker Dichter, so stellte sich unverzüglich das Bild einer unbeugsamen, jungen Altertumswissenschaftlerin ein, der man besser nicht widersprechen sollte.

    Gyburg Radke: Die Kindheit des Mythos. Die Erfindung der Literaturgeschichte in der Antike
    Verlag C. H. Beck, München 2007. 366 S. , 34.90 Euro