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Ein abgekartetes Spiel?

Im Dezember 1989 stürmten DDR-Bürger Stasibezirkszentralen und Kreisdienststellen. Zwanzig Jahre danach ist nicht mehr klar, ob das nicht ein von der SED abgekartetes Spiel war, um den Volkszorn von der SED abzulenken.

Von Alexandra Gerlach | 11.11.2009
    "Bei uns im Bezirksamt: Naja, sie waren heute wieder hier, Vertreter des Neuen Forums und auch der Staatsanwaltschaft und haben eine Reihe von Schränken als auch Räumen versiegelt."

    "Morgen früh wird der Dienstbetrieb nicht aufgenommen."

    "Morgen früh nicht aufgenommen?"

    "Alles versiegelt."

    "Alles?"

    "Alles. Bis auf den Diensthabenden hier." ---

    War die Erstürmung der Stasibezirkszentralen und Kreisdienststellen im Dezember 1989 eine autonom getroffene Entscheidung der oppositionellen Bürgerrechtsbewegung oder ein von der SED abgekartetes Spiel, um den eigenen Untergang abzuwenden?

    War die Parallelität der Ereignisse – trotz der schwierigen Kommunikationslage in der DDR - Zufall oder das Ergebnis strategischer Überlegungen? Zwanzig Jahre danach stellen zwei Berliner Stasiexperten die These auf, dass die Erstürmung der Stasidienstellen weit weniger spontan war, als bislang vermutet. Und: Dass sie in erster Linie dazu diente, den Volkszorn von der SED abzulenken. Das behauptet zumindest der Berliner Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen Martin Gutzeit. Gemeinsam mit seinem Stellvertreter, dem Historiker Jens Schöne, hat Gutzeit die Ereignisse von damals mit Hilfe von Beteiligten genau rekonstruiert, verglichen und analysiert, welche Verbindungen die handelnden Personen – Bürgerrechtler, Stasimitarbeiter und SED-Genossen - zueinander hatten.

    "Also man muss erst mal verschiedene Sichten zusammen führen und zusammen ordnen. Sich das noch einmal genau angucken."

    Die neuerliche Untersuchung der Vorgänge rund um die Auflösung der gefürchteten Staatssicherheit, die mit ihren 265.000 offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern jahrzehntelang für eine totale Überwachung aller gesellschaftlichen Bereiche in der DDR sorgte, werfe Fragen auf, sagt der Historiker Jens Schöne. Auch er ist heute im Amt des Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen beschäftigt:

    "Wir können zum Beispiel bis heute nicht erklären, warum diese Ereignisse, diese sogenannten Besetzungen mehr oder weniger parallel überall im Lande laufen, in Zeiten, in denen es noch kein Fax, kein Internet und keine E-Mails gibt."

    Das sieht der Leipziger Bürgerrechtler Tobias Hollitzer anders. Er betreibt heute die Forschung in der Gedenkstätte des Museums an der Runden Ecke in Leipzig, im Gebäude der ehemaligen Stasi-Bezirkszentrale.

    "Das ist keine Geschichte gewesen, die sozusagen generalstabsmäßig von irgendjemandem innerhalb der SED vorbereitet worden ist, sondern es ist eine Situation, die sich einfach ergeben hat."

    Auslöser der nun erneut aufgeflammten Debatte war vor gut zwei Jahren ein Zeitungsinterview des ehemaligen Dresdner Oberbürgermeisters, Wolfgang Berghofer. Er hatte darin erklärt, dass die SED im Herbst 1989 wohlüberlegt das Ministerium für Staatssicherheit zum Sündenbock für die misslungene Politik und Gesellschaftsform in der DDR machen ließ, um ihre eigene Haut zu retten. Eine These, der der Ex-DDR-Ministerpräsident, Hans Modrow, im Gespräch mit dem Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen, Martin Gutzeit, entschieden widersprochen hat. Der Leipziger Bürgerrechtler Tobias Hollitzer resümiert:

    "Auch das ist wieder so eine Geschichte, die man nicht so eindeutig schwarz-weiß darstellen kann. Faktisch muss man aus der Rücksicht auf jeden Fall sagen, die Staatssicherheit war auch während der friedlichen Revolution Schwert und Schild der Partei, es heißt, wir haben uns alle auf die Staatssicherheit gestürzt, zu Recht, aber haben dabei leider die SED aus dem Auge verloren, bzw., als es uns klar war, war sozusagen der revolutionäre Schwung und somit der Druck den wir haben aufbauen können nicht mehr groß genug, um die SED da mit hineinnehmen zu können."

    Müssen die Ereignisse rund um die Besetzung der Bezirkszentralen der Stasi, im Dezember 1989 neu untersucht und gegebenenfalls anders bewertet werden? Geschahen sie wirklich allein im Interesse und auf Initiative der Bürgerrechtler, die die Vernichtung von belastendem Aktenmaterial stoppen wollten oder hatte nicht die einst machtvolle SED den größeren Nutzen davon? Das sind grundlegende Fragen, die der Berliner Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Martin Gutzeit in einer sogenannten "Geschichtsfeldvermessung", im Rahmen einer geschlossenen Tagung mit Historikern und maßgeblichen Akteuren von ´89 im Juni 2008 neu aufgeworfen und recherchiert hat.

    Ausgangspunkt der Recherche ist der 3. Dezember 1989:

    "Es beginnt am Mittag des 3. Dezember im Berliner Friedrichstadtpalast, als bekannt wird, dass Schalck sich nach Westen abgesetzt haben soll. Das ist sozusagen für verschiedene Aktivitäten, in Berlin, die nachher auch ausstrahlen, der Ausgangspunkt."

    Schlüsselfigur bei diesem Treffen von oppositionellen Künstlern und Intellektuellen im Berliner Friedrichstadtpalast ist der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, Vorsitzender im Reformbündnis "Demokratischer Aufbruch". Dass Schnur auch Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit ist, ahnt zu diesem Zeitpunkt keiner aus der Bürgerbewegung. Schnur wird zum Wortführer in der Veranstaltung, die auch heftig über die kolportierte Aktenvernichtung durch die Stasi debattiert:

    "Der sozusagen auf dieser Veranstaltung die Initiative ergreift und sagt, wir müssen eine Erklärung machen, eigentlich einen Untersuchungsausschuss gründen, der diesen ganzen Sachen nachgeht der dann eine Demonstration anstiftet, die zum ZK-Gebäude marschieren soll – das passiert dann auch. Bei dieser Veranstaltung sind auch Vertreter vom Neuen Forum dabei."

    Parallel zum Treffen im Friedrichstadtpalast versammelt sich unterdessen die
    Führung des Neuen Forum in Grünheide, südöstlich von Berlin. Die Reformbewegung um Jens Reich und Bärbel Bohley will beraten, wie weiter zu verfahren ist. Seit Tagen existieren Gerüchte, dass die Staatssicherheit damit begonnen habe, massiv Akten zu vernichten. Die Bürgerrechtler befürchten, dass wichtiges Beweismaterial über das Wesen des SED-Unrechtsstaates für immer verloren gehen könnte. Die Stimmung der Bürger ist aufgeheizt und die führenden Köpfe der Bürgerbewegung haben Angst, dass ihnen der Protest der Massen entgleiten und in eine Eskalation der Gewalt münden könnte. Die nächste Montagsdemonstration in Leipzig steht unmittelbar bevor, das Klima ist explosiv. Im Berliner Friedrichstadtpalast macht Wolfgang Schnur den Vorschlag, dass, wenn es so gefährlich werde, man hinfahren müsse. Auch Bärbel Bohley sorgt sich. Sie sucht Kontakt zum Anwalt des Neuen Forums, Gregor Gysi. Noch in der Nacht vom 3. zum 4. Dezember kommt es zum Gespräch mit Anwalt Gregor Gysi und – das ist neu:

    "Mit Markus Wolf, wo Bärbel Bohley auch dafür wirbt, dass er sich einsetzt, dass in Leipzig nichts passiert und die Sache friedlich blieb. Und ihn bittet, ob er nicht vielleicht durch seine Kontakte mit dafür sorgen kann. Es kommt dann auch noch zu einer Kommunikation, Markus Wolf schreibt das in seiner Autobiografie von Anfang der 90er-Jahre, auch mit Gregor Gysi."

    In einem Gespräch mit dem Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen, Martin Gutzeit, wird Bärbel Bohley – die derzeit keine Interviews gibt - im Herbst 2005 zu Protokoll geben, wie sehr ihr das Gespräch mit dem ehemaligen Spionagechef der DDR, Markus Wolf, gegen den Strich ging. In einer Aktennotiz notiert Gutzeit, Bohley habe das Gefühl gehabt, "missbraucht und über den Tisch gezogen zu werden."

    Doch sie will alles tun, um einer Eskalation der Gewalt in Leipzig bei der bevorstehenden Montagsdemo vorzubeugen. Noch in der Nacht telefoniert sie mit ihrem Anwalt Gregor Gysi. Dieser trägt zu diesem Zeitpunkt auf "zwei Schultern": Er ist in die Vorbereitungen eines außerordentlichen Parteitages der SED eingebunden und zugleich Anwalt für das Neue Forum. In der Partei hat längst eine Zerreißprobe begonnen. Die Jungen bereiten den Aufstand gegen die alte Garde vor. Für die SED geht es im Spätherbst 1989 um "Alles oder Nichts", sagt der Berliner Historiker Jens Schöne und schildert die Situation am 2. Dezember:

    "Einen Tag vorher ist bereits der Führungsanspruch der SED aus der DDR-Verfassung gestrichen worden, also die Rahmenbedingungen ändern sich hier so fundamental, wie man sich das nur vorstellen kann. Einfach und zugespitzt formuliert ist das Interesse der SED erstmal zu überleben, denn zu diesem Zeitpunkt ist das gar nicht so sicher, es gibt genug Forderungen, dass die Partei aufgelöst werden soll, dass sie verboten werden soll. All dies liegt ja in der Luft, diese Forderungen sind nachweisbar."

    Ein Verbot oder gar die Auflösung der Sozialistischen Einheitspartei hätte gravierende finanzielle Folgen mit Blick auf das gigantische Parteivermögen. Das weiß die Parteiführung ebenso wie die sich formierende Generation der Nachfolger, die im Arbeitsausschuss zur Vorbereitung des außerordentlichen Parteitages nach neuen Strategien suchen. Anfang Dezember 1989 ist es daher zentrales Anliegen der SED-Reformer, das Überleben der Partei zu sichern, sagt Martin Gutzeit, der Berliner Landesbeauftragte für die Stasiunterlagen. Zugleich müssen die Genossen über die Zukunft ihres Hauptinstruments zur Sicherung der Macht im Land nachdenken. Was soll aus dem Ministerium für Staatssicherheit werden, das bislang die Aufgabe hatte, ein ganzes Land zu überwachen, um die geringste Opposition und systemkritische Auseinandersetzung im Keim zu ersticken? Vier Millionen Dossiers hat sie angelegt über Bürger in der DDR, zwei weitere Millionen Akten befassen sich mit ausländischen oder westdeutschen Bürgern. Brisante Zeugnisse der totalen Überwachung.

    "In diesen veränderten Konstellationen muss man sich fragen: Aus dem Schwert und Schild der Partei, was ist jetzt daraus geworden? Ist das noch ein Machtmittel oder ist das eine ganz große Belastung?"

    Die Wut der Demonstranten auf den Demonstrationen landauf, landab richtet sich weniger gegen die Partei als gegen die verhasste Stasi. Das verwundert aus heutiger Sicht auch den Leipziger Bürgerrechtler Tobias Hollitzer, der für das Bürgerkomitee Leipzig die Forschungsstelle der Gedenkstätte im Museum an der Runden Ecke in der alten Bezirks-Stasizentrale Leipzig leitet:

    "Und dass sich halt wirklich auch alles auf die Staatssicherheit fokussiert hat, an Zorn und an Negativ-Emotion, das war nicht nachzuvollziehen, aber es passiert. Das war auch für mich damals nicht verständlich. Ich habe es nicht begriffen, wieso man auf eine öffentlich nicht wahrnehmbare Staatssicherheit fokussiert und eine Polizei, die noch wenige Wochen vorher prügelnd über diesen Ring gezogen ist, mit Wasserwerfern und Sonderausrüstung, mit Hunden und mit Schiebegittern wird Wochen später völlig anstandslos und ohne überhaupt irgendeine Frage zu stellen als Sicherheitspartner gegen die Staatssicherheit mit einbezogen."
    Die Staatssicherheit ist bis zu diesem Zeitpunkt sehr wohl präsent im öffentlichen Bewusstsein, doch gleichzeitig selbst für hohe Funktionäre und auch Staatsanwälte unantastbar.

    Nicht nur in Leipzig ziehen Anfang Dezember dunkle Wolken des Volkszorns über der Bezirkszentrale der Staatssicherheit auf. In Dresden ist Arnold Vaatz Mitglied im Neuen Forum. Anfang Dezember 1989 ist er auf einer Großdemonstration in Dresden mit dabei, als der damalige Stasichef von Dresden, Horst Böhm zu den Montagsdemonstranten spricht. Vaatz erinnert sich, dass Flugblätter verteilt wurden, die zur Besetzung der Dresdener Stasibezirkszentrale auf der Bautzener Straße aufriefen. Wer diese verteilte, daran erinnert sich Vaatz nicht mehr, aber:

    "Verschiedene Beobachtungen, die ich gemacht habe, deuten schon darauf hin, dass es zumindest aus dem Hintergrund eine Kraft gegeben hat, die hier unauffällig tätig geworden ist, um die Dinge so zu kanalisieren, wie sie gelaufen sind."

    Am Morgen des 4. Dezember 1989 fällt der Startschuss für die landesweiten Besetzungen der Stasibezirkszentralen. Der Leipziger Tobias Hollitzer erinnert sich:

    "Soweit ich es überblicke, ist der zentrale Auslöser ein Interview gewesen im Berliner Rundfunk, mit einem MfS-Offizier oder MfS-Mitarbeiter, ich glaube vom Wachregiment, der sagte, ich kann das mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren, wir bewachen da sozusagen die Aktenvernichtung, und damit war das zum ersten mal auch ausgesprochen."

    Interview, MfS-Mitarbeiter:

    "Frank Lomscher, Sie haben heute Nacht das Funkhaus aufgesucht, sie sind Angehöriger des Amtes für Nationale Sicherheit, sie wollten unbedingt etwas loswerden."

    "Ja, mir geht es um folgende Sache. In welcher Art und Weise meiner Meinung nach in unserem Dienstobjekt Dinge geschehen, die mit diesen Tatsachen eben nicht vereinbar sind. Es geht mir darum, dass Akten oder Unterlagen oder Papiere verbrannt werden, vernichtet werden, durch den Ofen gehen, und dass ich der Meinung bin, das solche Verbrennung von Unterlagen keinesfalls der Vertrauensbildung dienlich sein können."

    Im Nachhinein ist dieses Interview nach Meinung der Stasi-Unterlagen-Experten Martin Gutzeit, Jens Schöne und Michael Beleites ein weiterer Beleg dafür, dass die fast zeitgleiche Erstürmung der Stasizentralen in weiten Teilen der mit Kommunikationsmitteln mager ausgestatteten DDR nicht ganz so zufällig geschah.
    Das Interview wirkt zwar gestellt, verfehlt aber seine Wirkung auf viele DDR-Bürger nicht, sie sind alarmiert. Die Spitze des Neuen Forums in Grünheide und allen voran Bärbel Bohley fürchteten eine Eskalation der Gewalt vor allem in Leipzig. Am 4. Dezember 1989 nimmt Bohley vermutlich am späten Vormittag daher Kontakt mit dem Neuen Forum in Leipzig auf. Das Telefonat, welches aus einer Berliner Privatwohnung geführt wird, wird für einen Film über die Arbeit der Bürgerrechtsbewegung auf Video aufgenommen:

    "Bohley, guten Tag. Sagen Sie bitte, ich brauche mal ganz dringend die Nummer von der Lindenstraße in Leipzig, vom Kontaktbüro Neues Forum."

    "Ja, ja, also ich kann Euch ganz kurz was sagen. Und zwar habe ich vorhin noch mal mit Gysi gesprochen."

    "Also wie gesagt wird das dort laufen. Das Haus der Staatssicherheit wird besichtigt werden. Und da können ein paar Leute mit dran teilnehmen, und dieser Film wird gesendet werden und es wird darüber was geben. Jetzt hat Gysi noch mal gesagt, es ist eine furchtbare Verantwortung, die da auf euch augenblicklich lastet, aber wenn es heute in Leipzig zu Gewalt kommt, dann haben wir morgen in der DDR eine ganz andere Regierung."

    In dem Video macht Bohley einen sehr besorgten Eindruck. Ihre Gespräche mit dem Ex-Spionagechef der DDR, Markus Wolf, der sich jetzt für Reformen in der DDR starkmacht, und später einem weiteren mit dem Anwalt des Neuen Forums, Gregor Gysi liegen erst wenige Stunden zurück. In jeder Silbe schwingt nun die Angst vor einer Eskalation mit ungewissem Ausgang mit:

    Nachdem Bärbel Bohley aufgelegt hat, wendet sie sich im Video an eine im Raum anwesende Person, die für den Betrachter nicht sichtbar wird:

    "Nein, das ist mit Gysi abgesprochen, der hat mit Modrow gesprochen. Heute Nacht, das ist alles heute Nacht abgesprochen worden. Bloß Gysi hat jetzt noch einmal angerufen und eben gesagt: 'Das müssen die in Leipzig verhindern, dass die Gewalt fließt, sonst haben wir morgen eine andere Regierung'. Es ist ganz schön ernst, schön ernst."

    Für Martin Gutzeit, den Berliner Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen, ist dieses – bislang unveröffentlichte - Video ein wichtiger Hinweis darauf, dass die SED weit mehr in die Abläufe der Stasibesetzungen eingebunden sein könnte, als bislang bekannt. Seine Untersuchung und seine These haben ihm im Lager der Bürgerbewegung nicht nur Freunde geschaffen. Völlig über Kreuz lag er in dieser Frage jahrlang mit dem Leipziger Bürgerrechtler Tobias Hollitzer, der dem Berliner Gutzeit vorwirft, Verschwörungstheorien zu schüren:

    "Aber initiieren, sozusagen aus dem Nichts heraus, hätte es mit Sicherheit niemand können und die Situation war einfach eine andere, als dass es überhaupt initiiert hätte werden müssen, und das war doch 1989 permanent so. Kein Mensch hätte einen Sturm auf die Mauer initiieren können."

    Das ist die Kernfrage in diesem Disput, der nun aufbricht: waren die Bürgerrechtler autonom, als sie die Besetzungen der Stasi-Bezirksverwaltungen begannen oder waren sie sozusagen "Marionetten der SED", instrumentalisiert in einem taktischen Spiel, wie es der Berliner Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Martin Gutzeit, für möglich hält? Rückendeckung erhält Gutzeit von seinem Amtskollegen der Stasiunterlagenbehörde im Freistaat Sachsen, Michael Beleites, der zu DDR-Zeiten als Umweltaktivist und Publizist selbst mehrfach unliebsame Begegnungen mit dem MfS hatte. Er verweist darauf, dass die Bürgerbewegung damals erstmalig und völlig unerwartet die helfende Hand des Staates gereicht bekam:

    "Als es an die Stasibesetzungen ging, da wurde plötzlich uns die Volkspolizei an die Seite gestellt, als Sicherheitspartner, da gab es für jeden Bezirk einen Regierungsbeauftragten aus der Modrow-Regierung, der das zu moderieren hatte und da gab es die Bezirksstaatsanwaltschaften oder die Militärstaatsanwaltschaften, die zwischen Stasi und Bürgerkomitee standen, aber am Ende mit dem Bürgerkomitee kooperiert haben."

    Der Dresdner Bürgerrechtler und heutige CDU-Bundestagsabgeordnete Arnold Vaatz weist auf weitere Eigentümlichkeiten in diesen ersten Dezembertagen des Jahres 1989 hin. So hätten sich selbst dort, wo niemand die Stasizentralen besetzt habe, die Mitarbeiter entwaffnet und die Staatsanwälte Archivräume versiegelt, nachdem sie zuvor ein paar Bürgerrechtler und die SED-Presse eingeladen hatten.

    "Ja sicher, bevor keine Beweise auf dem Tisch legen, sind das Mutmaßungen, aber diejenigen, die von vornherein diesen Gedankengang ablehnen, die müssen natürlich auch erklären, wie sie sich diese seltsame Parallelität zusammenreimen."

    Handelt es sich bei der These, dass die Besetzung der Stasizentralen 1989 bewusst von der SED gesteuert wurde, um Wahrheit oder Verschwörungstheorie? Für manche, die damals für die Freigabe der Akten und die Auflösung der DDR-Staatssicherheit gekämpft haben, dürfte diese These in eine schmerzhafte Debatte münden. Doch ein Trost bleibe, meint Ex-Bürgerrechtler Arnold Vaatz:

    "Sollte die SED oder sollte Modrow wirklich diese Strategie gewählt haben, was ich wie gesagt nicht ausschließen, sondern für wahrscheinlich halte, dann ist es trotzdem nicht Modrow gewesen, der die Schlacht entschieden hat, sondern die Leute die sich dann aufgemacht haben, um die Bezirksverwaltungen zu besetzen."