Archiv


Ein Funken Anarchie

Die Russin Irina lebt in den siebziger Jahren als Lehrerin in Baku am kaspischen Meer. Nachdem ihr Mann sie mit zwei Kindern sitzenlassen hat, begegnet Irina dem Aserbaidschaner Kjamal, und das Glück in der einzigen wahren Liebe bricht an. Nur eben, dass Aserbaidschaner keine Russinnen heiraten mögen und dass Irina nicht noch ein weiteres Kind will, deshalb treibt sie zu seinem Bedauern mehrfach ab. Kjamal gehorcht schließlich traditionsgemäß seiner moslemischen Mutter, er heiratet, bekommt einen Sohn, und Irina erfährt erst sehr spät von dieser Eheschließung, denn der Geliebte kommt regelmäßig weiter zu ihr zu Besuch.

Sabine Peters |
    Mit Beginn der Perestroika verschlechtert sich das Klima in Baku nicht nur für die Armenier, sondern auch für die Russen; die "nationalistische Seuche" geht in den folgenden Jahren um. Und so siedelt Irina zu den inzwischen erwachsenen Kindern nach Moskau über. Es läuft nicht gut dort: Arbeitslosigkeit beziehungsweise mafiöse Strukturen im Erwerbsleben machen den Leuten das Leben schwer; die Wohnungen sind zu eng, der Alkoholismus grassiert, und mit dem Respekt der erwachsenen Kinder für die Mutter ist es auch nicht mehr weit her.

    Irina versucht, sich als Köchin und Putze in der Datscha eines der schwerreichen "neuen Russen" über Wasser zu halten. Sie wird bei einem mittleren Mundraub erwischt, entlassen, trifft auf die Ärztin Anna, bei der sie fortan arbeitet, und die beiden Frauen trösten sich gegenseitig. Als Anna zu einem Kongress nach Baku fährt, lässt Irina Grüße an Kjamal ausrichten, und der hat nichts Eiligeres zu tun, als die frühere Geliebte um Geld zu bitten, damit sein kranker Sohn operiert werden kann. Irina und Kjamal treffen sich, Irina, die auf dem Weg zu ihm um ihr eigenes Geld bestohlen wurde, leiht die erbetene Summe ungefragt von Anna aus und gibt sie dem alt gewordenen Geliebten. Der schwört, das Geld abzuzahlen und zu ihr zurückzukommen; beide wissen jedoch, dass ihre Gegenwart und Zukunft ganz ungewiss sind - aber die Vergangenheit kann ihnen niemand nehmen.

    Eine Liebe fürs ganze Leben , so heißt die neue Erzählung von Viktorija Tokarjewa, ein so gefühlvolles wie milde ironisches Buch. Viktorija Tokarjewa wurde 1937 in St. Petersburg geboren, sie ist seit 1964 Schriftstellerin, und bei Diogenes sind längst zahlreiche Bücher von ihr veröffentlicht worden. Neben der Möglichkeit, anlässlich des diesjährigen Buchmesseschwerpunktes auf die russischen Klassiker zurückzugreifen - was Diogenes etwa mit einem Band des Revolutionärs Kropotkin unternimmt - oder neben der Entscheidung, einen weiteren, bisher noch weniger bekannten jungen Autoren aus der nachwachsenden Generation vorzustellen, kann man sich natürlich auch auf Bewährtes besinnen. Viktorija Tokarjewa ist bewährt; so wird sie von Doris Dörrie, Elke Heidenreich und Alice Schwarzer für ihre Lebendigkeit, ihren Witz, ihr Tempo gelobt.

    Die neue Erzählung Eine Liebe fürs ganze Leben ist schwungvoll geschrieben und lädt ein, sich in das Schicksal der doch ziemlich gebeutelten Irnina hineinzuversetzen. Es finden sich eine Reihe spöttischer kleiner Kommentare, etwa, wenn es von der unfreiwilligen Ehe Kjamals heißt, sie sei kein Mozart-Duett wie die Liebe mit Irina, diese Ehe sei allenfalls ein Flohwalzer. Oder wenn von Irina selbst festgestellt wird, wie sie sich im Lauf ihres Lebens der verachteten Mutter annäherte: In der Liebe zu Kjamal sei Irina eine Taube gewesen, durch und durch eine Taube, aber seither habe sie, etwa in ihrem Verhalten den eigenen Kindern gegenüber, den Pfad des Bisons
    eingeschlagen: Trampeln, Lärm schlagen, Unfrieden stiften. Das sind hübsche Beobachtungen, und sympathisch ist es auch, dass sich die Autorin nicht über ihre Figuren erhebt; ihr Spott über die "einfache Russin" Irina ist immer auch mitfühlend.

    Wenn man sich das Welt- und Menschenbild aber genauer ansieht, werden einem die Grenzen dieser Erzählung klar, sie ist doch ziemlich eindimensional. Irina kann nur einem einzigen Mann vertrauen, dem Franklin auf den Dollarnoten. Die Männer an sich sind verantwortungslos, kindisch, sentimental, sie suchen in der Frau nichts als die Mutter. Und die Frauen erfüllen größtenteils die entsprechenden Erwartungen. Sie sind hingebungsvoll und tapfer zugleich, stehen mit beiden Füßen fest auf der Erde und haben einen bescheidenen, geradezu selbstgenügsamen, so genannten "gesunden" Menschenverstand. Ein ehrbarer Konservativismus ist ihnen eigen; so würde Irina zwar auch gern zu den reichen "neuen Russen" gehören, aber, so findet sie, ehrliche Arbeit schändet nicht.

    Diese Gutwilligkeit und Treuherzigkeit wird, provokativ gesagt, vermutlich gerade hierzulande in manchen Kreisen sattes Einverständnis auslösen: Diese ganzen Russen drüben sollen bloß nicht alle deutsche oder jüdische Vorfahren nachweisen und nach Deutschland kommen, jeder bleibe bei seinem Leisten, Frauen müssen nunmal überall zuhause die Wohnungen putzen, sie müssen ihre Kinder und die ewig unerwachsenen Männer päppeln, nicht wahr, das Leben ist überall dasselbe, alles ist eins. Gehobene Unterhaltungsliteratur, und um solche handelt es sich hier, hat etwas Affirmatives, sie stört nicht auf, verstört nicht - und so ist neben dem Menschenbild auch das Weltbild beziehungsweise das Bild der nachsowjetischen Gesellschaft bei Tokarjewa recht schlicht, vage, ihr Buch bietet eine Art größten gemeinsamen Nenner an, auf den sich ziemlich überall eine breite Leserschaft einigen könnte.

    Die Autorin zeigt, dass die kleinen Leute die große Politik "da oben" nicht verstehen, sondern nur erleiden. Die "nationalistische Seuche", die die Bevölkerungen der ehemaligen Sowjetunion gegeneinander treibt, scheint mit der Perestroika vom Himmel gefallen zu sein; politische, historische, soziologische oder ökonomische Verstehensversuche spielen keine Rolle, sondern: Einvernehmlich mit Irina kopfschüttelnd können "wir" alle uns darauf besinnen, dass es traurig ist, wenn Freundschaft zwischen den Völkern von Hass aufeinander abgelöst wird. Die Irinas dieser Welt gleichen, so heißt es einmal, und man liest das mit sehr gemischten Gefühlen, sie gleichen Ameisen, die ihre Last tapfer schultern und sich gelegentlich den Schweiß von der Stirn wischen.

    Genug. Man soll von dieser Art Literatur nicht mehr erhoffen, als es ihr in ihren Grenzen gegeben ist. Und so soll bei allen Einwänden hervorgehoben werden: Viktorija Tokarjewa bedient nicht nur Klischees, sondern türmt diese Klischees in den schönsten Passagen ihres Buchs derartig aufeinander, dass das Gebäude auseinander bricht. So kann gelegentlich aus lauter wohlmeinendem Biedersinn ein Funken Anarchie auftauchen. Abgesehen davon beschreibt sie eben einmal mehr eine großzügige Liebe: Irninas Liebe rechnet nicht, sie entzieht sich jeder Verwertungslogik. Das Bedürfnis nach solchen Geschichten ist ungebrochen vorhanden; insofern wird das Buch seine Leser finden.

    Viktorija Tokarjewa
    Eine Liebe fürs ganze Leben
    Diogenes, 150 S., EUR 15,90