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Ein Jahr Elbphilharmonie
Spagat zwischen Klassik und lautem Rock

Sinfonien treffen auf Popmusik: "Diesen Spagat können nur wenige Säle bieten, es schaut aber ganz gut aus bei uns", sagte Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter im Dlf - und zog nach dem ersten Jahr des Konzerthauses Bilanz.

Christoph Lieben-Seutter im Corsogespräch mit Juliane Reil |
    Während des Eröffnungskonzerts wird am 11.01.2017 am Hafen in Hamburg die Elbphilharmonie illuminiert. Das Konzerthaus wurde am Abend feierlich eröffnet.
    Illumination der Elbphilharmonie während des Eröffnungskonzerts am 11.01.2017 (dpa /Bodo Marks )
    Juliane Reil: Klassik und Pop - das ist ein ziemliches Alleinstellungsmerkmal für eine Philharmonie in Deutschland und Mitteleuropa. Muss ein modernes Konzerthaus heute diesen Spagat leisten?
    Christoph Lieben-Seutter: Also ganz so ein Alleinstellungsmerkmal ist es gar nicht, ehrlich gesagt. In den klassischen Konzertsälen gibt es eigentlich seit dem Benny Goodman in der Carnegie Hall aufgetreten ist immer auch Jazz, Pop, Schlager und andere Dinge. Auch in Deutschland sind alle möglichen Leute zum Beispiel in der Kölner Philharmonie aufgetreten. Aber es stimmt schon, die Akustik ist gemacht für akustische Musik, dazu sind die Säle gebaut. Und je lauter ein Konzert verstärkt wird, desto kniffliger wird es. Den Spagat, dass man sowohl hervorragende Klassik macht als auch wirklich laute Rockmusik, den können nur wenige Säle bieten, und das schaut aber ganz gut aus bei uns.
    Reil: Aber warum hängen Sie sich dann so rein, dass Sie diesen Saal eben auch bespielbar machen für Pop-Bands?
    Lieben-Seutter: Weil die Musik toll ist. Weil ich selber wahrscheinlich mehr Popmusik in meinem Leben höre als Klassik, wobei Pop ein genauso unzureichender Begriff wie Klassik ist. So denkt das Publikum, so sind die Künstler auch interessiert, und das war von Anfang an im Konzept der Elbphilharmonie vorgesehen, dass circa 20 Prozent der Konzerte nicht in den klassischen Bereich fallen.
    Einzelne, handverlesene Konzerte
    Reil: Die erste Band, die ein Popkonzert in der Elbphilharmonie gespielt hat, das waren ja die Einstürzenden Neubauten, mittlerweile sind das etablierte Künstler - Salonlöwen, wenn man so möchte - die aber auch noch immer so dieses Image von der Gegenkultur mit sich führen, und auch bei dem Konzert im letzten Jahr konnte man ja dann Plastikkanister auf der Bühne sehen, rotierende Sägeblätter, Stahlrohre, die zum Boden geschleudert wurden oder zu Boden gefallen sind. War das ein wichtiges Konzert, ich glaube, bei dem Sie ja auch gesagt haben, Sie möchten gerne die Einstürzenden Neubauten eben in der Elbphilharmonie haben. War das so ein Statement der subtilen Subversion vielleicht?
    Lieben-Seutter: Das ist schon fast übertrieben, wobei ich an subtiler Subversion große Freude habe. Aber die Einstürzenden Neubauten, wie Sie richtig sagen, sind ein wirklicher Klassiker, ein Klassiker, der Avantgardemusik. Ich habe die noch als Schüler erlebt, damals in einem Club in Wien, daher war ich bei der Frage, die ja schnell gekommen ist, welche deutsche Band oder welche deutsche Rockgruppe ist am geeignetsten, als erstes in der Elbphilharmonie aufzutreten, das erste laute Konzert in der Elbphilharmonie zu machen, bin ich sehr früh schon auf die Neubauten gekommen. Da waren wir jahrelang im Gespräch, zu Zeiten, wo noch ganz andere Eröffnungstermine vorgesehen waren. Und am Schluss kam es auch dazu, dass der Name auch noch sehr passend war zur Eröffnung eines Neubaus - muss ich Ihnen nicht sagen.
    Die Band "Einstürzende Neubauten" mit Sänger Blixa Bargeld spielen am 21.01.2017 im Großen Saal der Elbphilharmonie in Hamburg.
    Die Band "Einstürzende Neubauten" mit Sänger Blixa Bargeld spielen am 21.01.2017 im Großen Saal der Elbphilharmonie in Hamburg. (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
    Reil: Ja, unheimlich viele Popmusiker haben auch danach im ersten Jahr der Elbphilharmonie eben gespielt. Nach den Neubauten kam dann irgendwann mal Anohni vorbei, eine Künstlerin, die im Independent Bereich wirkt, sehr groß dort ist, aber eben Independent dann doch eine Nische, und auf der anderen Seite sind dann auch solche Künstler wie The National, eine unheimlich große Rockband, aufgetreten in der Elbphilharmonie, die sonst Arenen, Fußballstadien bespielt. Ich frage mich bei dieser Vielfalt, was ist da eigentlich Ihr Kriterium, wie wählen Sie die Künstler aus?
    Lieben-Seutter: Also da muss man auch sagen, so unheimlich viele Künstler waren es ja nicht. Es sind einzelne, wirklich handverlesene Ereignisse gewesen. Sie können das eigentlich an einer Hand abzählen. Das Kriterium war in all diesen Fällen, dass hier nicht einfach eine Tourneestation ist zwischen zwei Stadien, sondern dass der Künstler oder die Band sich überlegen, warum sie in der Elbphilharmonie auftreten. Zum Beispiel, gerade im Fall von Anohni war es das einzige Konzert, was sie überhaupt im letzten Jahr gegeben hat, weltweit. Und sie hat extra für das Konzert in der Elbphilharmonie mit New Yorker Musikern ein Programm einstudiert und das nur hier bei uns gebracht.
    Bei The National war es zugegebenermaßen im Rahmen einer Tournee, aber auch das in einem besonderen Kontext, weil wir ein ganzes Wochenende von Konzerten rund um Bryce Dessner gemacht haben, den Gitarristen von The National, der auch gleichzeitig Komponist von klassischer Musik ist. Das heißt, an den Tagen davor gab es Orchestermusik und Kammerorchester und neue Musik. Und The National sind dann auch aufgetreten, aber das nicht mit der gleichen Show, der gleichen, großen Video- und Lichtorgie, wie sie es normalerweise in einem Stadion machen würden.
    "Das Kernprogramm ist klassische Musik"
    Reil: Also handverlesene Künstler und ein auf die Elbphilharmonie abgestimmtes Programm. Auf der anderen Seite hat am letzten Freitag ein Konzert von Popstar Rita Ora in der Elbphilharmonie stattgefunden mit einigen YouTube-Stars.
    Lieben-Seutter: Das war eine Vermietung, rein technisch gesehen. Auch die war willkommen, aber da ging es aber eigentlich mehr noch um das Konzept von YouTube und dem Phänomen, dass über YouTube ganz neue Karrieren kreiert werden und Leute auf einem ganz anderen Weg bekannt werden. Und Rita Ora war sozusagen das Zugpferd.
    Reil: Gibt es denn Künstler, die bei Ihnen überhaupt nicht auftreten dürften?
    Lieben-Seutter: Sagen wir mal nicht. Das gehört sich nicht im Radio.
    Reil: Ich wollte Ihnen anbieten: Die Goldenen Zitronen zum Beispiel oder Helene Fischer.
    Lieben-Seutter: Müsste man jeweils besprechen, was für eine Art von Programm oder zu welchem Anlass. Ganz ausschließen würde ich es nicht.
    Die britische Sängerin Anohni bei einem Konzert in der Aarhus Music Hall in Dänemark.
    Die britische Sängerin Anohni. (Michael SVENNINGSEN / Scanpix Denmark / AFP)
    Reil: Also auf jeden Fall scheint sich die Elbphilharmonie weltoffen zu geben und auch Künstler treten dort auf, die man vielleicht sonst an anderen Orten in der Stadt, in der Musikstadt Hamburg - wie sie sich ja gerne nennt - eigentlich auftreten würden. Haben Sie da manchmal das Gefühl, dass Sie den mittelgroßen Klubs - zumindest in der Hansestadt - etwas wegnehmen?
    Lieben-Seutter: Nein, wie gesagt, es handelt sich um handverlesene Ereignisse. Es gibt zwar schon durchaus Bands, die, wenn die Elbphilharmonie nicht existieren würde, dann würden sie in einem kleineren Klub vor ein paar hundert Leuten spielen. Und dank der Attraktivität der Elbphilharmonie spielen sie dann vor einem großen Saal, vor 2000 Leuten. Das ist auch eine Chance, die unsere Freunde von den Klubs auch manchmal durchaus den Bands gönnen. Aber die Elbphilharmonie ist überhaupt nicht dazu gedacht, um hier irgendwem eine Konkurrenz zu sein, es bleibt das Kernprogramm, das ist klassische Musik.
    Facettenreiche Konzert-Abos
    Reil: Ich habe mich gefragt, ob die Elbphilharmonie eigentlich auch so ein Interesse an einem Erziehungsprogramm vielleicht auf eine Art und Weise hat. Man kennt ja immer noch diese Unterscheidung zwischen U- und E-Musik, irgendwie hat sich das in die Wahrnehmung von Musik - habe ich das Gefühl - in Europa eingefressen, auch wenn man zwischendurch sagt, dass diese Standards überholt seien - und trotzdem bestehen Sie auf eine Art und Weise. Haben Sie da trotzdem das Gefühl, dass Sie eben Leute aus dem U-Bereich irgendwie in den E-Bereich vielleicht auch locken oder sogar zerren können, indem Sie eben Konzerte von Anohni liefern und vielleicht aber auch den ein oder anderen dann für Haydn oder Schostakowitsch begeistern können?
    Lieben-Seutter: Also ich glaube, den Effekt gibt es auch, aber Erzieherisches liegt mir hier eigentlich fern. Die Begriffe sind völlig überholt, dass das noch so ein bisschen in der Systematik steckt, von der Urheberrechtsgesellschaft bis zu den Radiostationen, ist erstaunlich. Aber weder das Publikum, noch die Interpreten denken noch in solchen Kategorien, oder haben jedenfalls in Kategorien gedacht. Ich selber habe Zeit meines Lebens Musik aus jedem Genre geliebt und genossen.
    Aber Sie haben nicht Unrecht: Wenn man in einem Raum, der für Orchestermusik gebaut ist, mal nur deswegen geht, weil man seine Lieblings Pop- oder Jazz oder andere Künstler erleben kann, dann ist trotzdem da mal eine Verbindung geschaffen, die es einem vielleicht dann irgendwie zugänglicher macht, dann auch mal ein Orchesterkonzert mit Schostakowitsch zu erleben. Und tatsächlich bieten wir auch Abos an, die sowohl als auch ein klassisches Konzert und ein Jazzkonzert oder den Avantgardekünstler bringen, das kommt mehr aus Neugier, Spaß und Freude an der Musik.
    Intendant der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, in der Elbphilharmonie in Hamburg.
    Intendant der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, in der Elbphilharmonie in Hamburg. (picture alliance / Daniel Reinhardt / dpa)
    Reil: Sie haben ja schon den angloamerikanischen Raum auch genannt, bei dem ganz einfach die Übergänge zwischen verschiedenen Musikgenres ja sehr viel fließender sind, oder man gibt sich da sehr viel toleranter. Sie selbst haben in der Elbphilharmonie auch das Reflektorfestival aus der Taufe gehoben. Das Konzept: Der Künstler ist der Kurator, bei der Premiere war das Bryce Dessner, Rockgitarrist von The National, der - wie Sie sagten - eben auch für große Orchester gleichzeitig komponiert. Das heißt, der angloamerikanische Raum ist schon so ein bisschen das Vorbild.
    Lieben-Seutter: Was heißt Vorbild, dort war es nie so, dort gab es diese Unterteilung zwischen E und U nicht, sondern das war immer schon viel offener, und Sie müssen nur jemanden wie Bernstein oder George Gershwin oder viele andere amerikanische Künstler nehmen, die in beiden Welten absolut zuhause sind oder waren. Das ist glaube ich bis heute so geblieben.
    "Ich kann den Frust nicht verhindern"
    Reil: Herr Lieben-Seutter, die Elbphilharmonie ist binnen weniger Stunden ausverkauft gewesen, das gilt für die erste Saison, aber auch für die zweite Saison. Und danach kann man noch das Glück haben, bei der Kartenlotterie ein Ticket zu bekommen. "Nur das Berghain ist härter", das schrieb der "Musikexpress" und beschrieb diese Lotterie der Elbphilharmonie als "Reinfall des Jahres".
    Lieben-Seutter: Ich kann mit dem Wort Reinfall in dem Fall gar nichts anfangen, im Gegenteil, es ist eine vom Publikum sehr positiv aufgenommene Lösung mit der Situation, dass es bei vielen Konzerten eine sehr viel größere Nachfrage als Angebot gibt. Im Pop-Bereich kennt man das viel eher, dass irgendwie ganz große Superstars nochmal eine Tournee machen, auch im Sport ist man das gewohnt, aber in der Klassik ist das halt neu. Und bevor jetzt hier die Menschen sich stundenlang an Vorverkaufskassen anstellen müssen oder unbedingt genau um 10:00 Uhr vor dem Internet sitzen müssen und am verzweifeln, weil ihre Internetleitung nicht schnell genug ist, ist es sehr viel angenehmer und fairer - Klammer auf, auch was den Schwarzmarkt betrifft durchaus abschreckender -, wenn man Karten einfach bestellen kann, und wenn eben sehr viel mehr Bestellungen vorliegen, dann entscheidet nicht das 'First-come-first-serve'-Prinzip, sondern einfach das Zufallsprinzip.
    Reil: Ich bin mir nicht so sicher, ob das Publikum das tatsächlich so positiv wahrnimmt. Ich habe da eher das Gefühl, dass da eine ganze Menge Frust mitschwingt.
    Lieben-Seutter: Ja, aber was soll man machen, ich kann den Frust nicht verhindern. Wenn es sehr viel mehr Nachfrage gibt als Angebot, dann sind automatisch alle die, die das, was sie gerne wollen, nicht bekommen, frustriert, das liegt in der Natur der Sache. Und das kannst du mit keinem System der Welt verändern. Ich kann nur sagen, die Beschwerdebriefe auf meinem Schreibtisch sind sehr, sehr viel geringer geworden.
    "Ein Ort, an dem sich Publikum und Künstler wohlfühlen"
    Reil: Wie müssen wir uns die Elbphilharmonie in fünf Jahren vorstellen? Was für Künstler werden dort auftreten, in welcher Größenordnung?
    Lieben-Seutter: Ich glaube, dass das Angebot, so wie wir es jetzt im ersten Jahr gebracht haben, stimmig ist, also gerade auch diese Mischung aus lokalen Orchestern, großen Klassik-Gastspielen, ausgefallenen Dingen, Pop-Jazz, Weltmusik, Avantgarde, auch sehr viele Projekte für Schüler, für Kinder zum Mitmachen - die Mischung fühlt sich gut an. Die Nachfrage wird - nehme ich doch mal - nachlassen, was aber noch immer heißen wird, dass wir volle Säle haben werden, weil die Elbphilharmonie einfach ein sehr, sehr attraktiver und schöner Ort ist, wo sich sowohl das Publikum, wie auch die Künstler sehr wohlfühlen und der Wiederholungseffekt sehr hoch ist. Insofern gehe ich davon aus, dass wir auch in fünf und in zehn Jahren hier sehr gut besuchte Konzerte haben werden.
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