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Einblicke in eine dunkle Folge des nationalsozialistischen Terrors

Der Historiker Christian Goeschel hat sich mit einem bislang kaum beachteten Thema beschäftigt. Für seine Studie "Selbstmord im Dritten Reich" wertete er Selbstmordstatistiken, Polizei- und Medienberichte, aber auch Abschiedsbriefe und Tagebuchnotizen aus. Den Selbstmord deutet er als Folge der Auflösung sozialer Ordnung.

Von Martin Hubert | 30.01.2012
    Wer eine historische Studie über den "Selbstmord im Dritten Reich" schreiben möchte, steht vor einem großen Problem. Denn einerseits ist Selbstmord etwas so Persönliches, dass kaum ein Außenstehender sicher sein kann, die Gründe dafür völlig zu verstehen. Andererseits muss ein Historiker nach allgemeinen Mustern suchen, die für die Zeit typisch sind. Der deutsche Historiker Christian Goeschel, der am University College in London lehrt, ist sich dieser Spannung bewusst. In der Einleitung schreibt er:

    Darum müssen wir wissenschaftliche Frontlinien ignorieren und beides in Betracht ziehen: die individuellen Aspekte des Selbstmords ebenso wie die gesellschaftlichen.

    Goeschel wertet daher in seiner Studie nicht nur Selbstmordstatistiken, Polizei- und Medienberichte sowie NS-Dokumente aus, sondern dokumentiert auch Abschiedsbriefe und Tagebuchnotizen von Selbstmördern. Er hat dafür mehrere Jahre intensiv in Deutschland recherchiert und auch bisher unveröffentlichtes Material entdeckt. Schon die soziale Spannweite, die Goeschel abdeckt, verleiht seinem Buch Gewicht. Es behandelt Selbstmorde einfacher Arbeiter und Angestellten, Beamten, Soldaten, Juden, Sozialisten bis hin zu den höchsten Funktionsträgern des NS-Regimes. Wobei Goeschel mit der Vorgeschichte des Dritten Reichs einsetzt, mit der Weimarer Republik. In ihr war die Selbstmordrate vor allem auf Grund der wirtschaftlichen Not und der politisch unsicheren Lage angestiegen. Gleichzeitig begann nach Goeschel ein politischer und weltanschaulicher Deutungskampf über die Ursachen.

    Die NS-Führung machte das "Weimarer System" direkt für die Selbstmorde verantwortlich. In einer außenpolitischen Rede auf einer Parteiversammlung am 13. Juli 1928 sagte Hitler: "Heute stehen wir vor folgender Tatsache: Deutschland hat 62 Millionen Menschen, die auf 460 Quadratkilometern leben. Sie können sich nicht ernähren. Die Folge davon ist, dass auf der einen Seite Hunger und Not wüten, auf der anderen Seite jährlich 20.000 Selbstmorde stattfinden.

    Diese Propaganda, so Goeschel wurde nach der Machtergreifung 1933 für das neue Regime zu einer Hypothek. Denn es beanspruchte, im neuen Staat Hunger und Not und damit die sozialen Ursachen des Selbstmords beseitigt zu haben. Parallel dazu verurteilten die Nazis den Selbstmord als egoistisch und minderwertig, als Verstoß gegen die oberste Pflicht des Einzelnen, dem Volksganzen zu dienen. Der Historiker zeigt, wie die Nazis vor allem in die Presseberichterstattung eingriffen, um ein beschönigendes Bild vom Selbstmord zu erzeugen, das die Überlegenheit des Dritten Reiches gegenüber der Weimarer Republik demonstrieren sollte. Goeschel widerlegt ihre Manipulationen durch Zahlen.

    Bis 1939, dem letzten Jahr, für das landesweite Statistiken vorliegen, blieben die Selbstmordzahlen, obwohl sich die Wirtschaft erholt hatte, auf dem Stand der späten Weimarer Jahre. Die Selbstmordrate im Dritten Reich fiel nie deutlich unter den relativ hohen Stand der späten Weimarer Republik.

    Die wirtschaftlichen Motive für den Selbstmord traten im Dritten Reich zurück, ohne völlig zu verschwinden. Andere Motive nahmen zu. Während des Zweiten Weltkriegs brachten sich etwa zunehmend Menschen um, die die drohende Niederlage gegen die Alliierten nicht verkrafteten, aufgrund von Bombenangriffen Eigentum und Angehörige verloren oder Angst vor dem Einmarsch der Rotarmisten hatten. Vor allem aber widmet sich Goeschel dem Selbstmord, der politisch und ideologisch bedingt war, dem der Verfolgten und Ausgegrenzten: von Sozialdemokraten, Liberalen, Kommunisten, Juden, Homosexuellen, Kranken und Kriminellen. Sie brachten sich aus Angst vor dem Terror um, zum Teil schon im Angesicht von Folter und Tod in Gefängnissen, SS-Verließen oder im KZ. Für viele Juden, betont Goeschel, war der Selbstmord dabei ein Mittel, das eigene Selbstwertgefühl zu retten.

    Die Welle der Deportationen zwischen 1941 und 1943 löste drei- bis viertausend Selbstmorde deutscher Juden aus. (...) Die Selbstmorde waren meist keine spontanen Akte der Verzweiflung; vielmehr wurden sie, als die Deportationen begannen, häufig sorgfältig geplant. Das Motiv, eine gewisse Würde zu wahren, wird also entscheidender gewesen sein als reine Verzweiflung. In der großen Mehrzahl der Fälle waren die Juden, die Selbstmord begingen, hoch assimiliert und fühlten sich nicht als Juden. Sie wollten einfach nicht akzeptieren, dass sie von den Nationalsozialisten zu "rassischen" Juden abgestempelt wurden.

    Insgesamt deutet Goeschel den Selbstmord im Dritten Reich in Anlehnung an den französischen Soziologen Émile Durkheim als Produkt einer sozialen Anomie: Willkür, der Zusammenbruch von Normen und Werten und einer geordneten Staatlichkeit habe den Verfolgten oft keine andere Wahl als Selbstmord gelassen. In gewissem Sinne ordnet der Historiker in dieses Deutungsmuster auch die von ihm so bezeichnete "Selbstmordepidemie" ein, die NS-Funktionsträger beim Zusammenbruch des Regimes erfasste. Christian Goeschel schreibt:

    Entsprechend heftig erlebten alle, die dem Regime loyal gefolgt waren, die Anomie, die sich einstellte, als das Reich schließlich zusammenbrach. Wenn sie sich das Leben nehmen wollten, wurden sie in ihrer Entscheidung bestärkt durch den nationalsozialistischen Kult der heroischen Selbstaufopferung, auch durch die Furcht der Erniedrigung durch Verhaftung und Prozess - möglicherweise war auch ein mehr oder weniger unbewusstes Gefühl der Schuld im Spiel.

    Goeschels Ansatz, den Selbstmord als Folge von Anomie, also der Auflösung sozialer Ordnung, zu deuten, taugt zwar, um die von ihm dokumentierten Phänomene in einem großen Bogen zusammenzufassen. Allerdings steht dieses allgemeine Erklärungsmuster in Widerspruch zu seinem Anliegen, auch die individuellen Aspekte des Selbstmords zu beleuchten. Warum etwa tötete sich Hermann Göring erst, nachdem er auftrumpfend den Nürnberger Prozess durchgestanden hatte? Warum begingen dann Hitler und Goebbels vor einer möglichen Gefangennahme Selbstmord und stilisierten ihn zu einem heroischen Symbol in der Tradition römischer Stoiker? Und warum begingen viele NS-Funktionsträger gar nicht Selbstmord? Was schließlich bedeutet es eigentlich für das Gefühl der Würde, wenn sich vor allem assimilierte Juden umbrachten, die darüber empört waren, dass die Nazis sie trotzdem rassisch definierten? Christian Goeschel dokumentiert zwar all diese Phänomene, bietet dem Leser aber keine psychologische Feinanalysen darüber, wie hier Ideologie, Macht und Gewalt individuell verarbeitet werden. Das zeigt aber nur, dass das schwierige Thema "Selbstmord im Dritten Reich" auch mit Goeschels Studie noch nicht abgeschlossen ist. Ihr Verdienst ist es, für jede weitere Beschäftigung ein unverzichtbares Fundament gelegt zu haben. Denn sie verschafft dem Leser Einblicke in eine dunkle Folge des nationalsozialistischen Terrors, wie es sie bisher noch nicht gab.

    Christian Goeschel
    Selbstmord im Dritten Reich.
    Suhrkamp Verlag, 338 Seiten, 21,90 Euro
    ISBN: 978-3-518-42269-4