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Eine Enttäuschung

Ljudmila Ulitzkaja - Jahrgang 1943 - ist die russische Gegenwartsautorin, die auch bei uns mit ihren Romanen über die Schicksale der unterschiedlichsten Menschen im Russland des 20. Jahrhunderts eine begeisterte und treue Leser- oder wohl eher Leserinnengemeinde gefunden hat. Ihre so ganz im Universum des Privaten angesiedelten, farbig und locker erzählten Familiengeschichten voller tragischer und komischer Verwicklungen unter den gesellschaftlichen Umständen des Sowjetsystems trafen einen Nerv.

Von Karla Hielscher |
    Das Politische nur noch als exotischer Hintergrund von Biographien im riesigen Sowjetreich, als spannungssteigernde Folie für die ganz normalen privaten Katastrophen und Glücksmomente des Lebens ihrer Generation - das erweckte Interesse in der Zeit nach dem Zusammenbruch der Ideologien, da konnte man sich selbst - ein wenig verfremdet - mit den ewigen Lebensproblemen um Liebe, Untreue, Krankheit, Alter und Tod wiederfinden. Und Ljudmila Ulitzkaja hat in ihren Texten auch die dunklen Seiten des Lebens wie Selbstmord und Wahnsinn, Depression und Altersdemenz nicht ausgespart. Sie hat dies jedoch in einer von leicht resigniertem Humor und fatalistischer Gelassenheit geprägten So-ist-das Leben-Haltung getan, die aufbaut und Trost spendet. Deshalb ist ihre Prosa - auch wenn sie sich oft hart an den Grenzen zur Trivialliteratur bewegt - sympathisch und lesenswert.

    Ihr neuer Roman "Ergebenst, euer Schurik" ist jedoch eine Enttäuschung. Und das liegt nicht am Thema. Es geht in dem Buch um die Geschichte einer vaterlosen Familie aus dem mittleren Moskauer Intelligenzija-Milieu der 50er bis 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Die Titelgestalt Schurik ist das einzige uneheliche Kind einer gescheiterten Schauspielerin aus ihrer jahrzehntelangen romantischen Verbindung mit einem ebenso erfolglosen Pianisten. Der sensible, heißgeliebte Junge wächst - wie so häufig in russischen Familien - allein von Frauen erzogen auf. Die aus einer reichen Kaufmannsfamilie stammende früh emanzipierte, als Französischlehrerin arbeitende Großmutter hält - trotz Armut und sozialem Abstieg - auch in Sowjetzeiten an ihrer traditionellen kultivierten Lebensweise fest. Die von ihr dominierte und behütete, zartbesaitete Tochter weiß - in ihrer von Literatur und Theater geprägten, altmodischen Wertewelt des intellektuellen Russland - nur wenig vom wirklichen Leben. Beide Frauen konzentrieren ihre ganze Liebe, ihre Ambitionen und Zukunftshoffnungen auf das Kind. Bei einer solchen Sozialisation hat der kleine Schurik nur wenig Chancen für ein eigenes starkes Ich. Er entwickelt sich zu einem herzensguten, sich unablässig für andere aufreibenden, schwachen jungen Mann, der aus seinen Begabungen nichts macht, jedoch mit seiner für russische Männer absolut ungewöhnlichen mitleidigen Anteilnahme zum Liebling und Tröster einer ganzen Reihe von unglücklichen Frauen wird. Infolge seiner symbiotischen Mutterbindung fehlt ihm die Fähigkeit zu tiefer leidenschaftlicher Liebe, er ist jedoch seinen vielen Freundinnen nicht nur mit allen möglichen Hilfestellungen und Besorgungen - Katzenfüttern, Einkaufen, Nachhausebegleiten - sondern auch mit seiner Manneskraft immer zu Diensten.

    Die Frauen, die sich an ihn hängen, stellen mit ihren Schicksalen ein buntes Panorama der Lebenswelten der spätsowjetischen Zeit dar: die kindliche, kurzgeschorene Lilja, das "Äffchen", die mit ihren jüdischen Eltern nach Israel ausreist; die krummbeinige kasachische Chemiestudentin Alja, die Schurik braucht und ausnützt, um gezielt ihren Aufstieg aus armseligsten Verhältnissen voranzutreiben; die von einem kubanischen Studenten schwangere Kommilitonin Lena, Kind hoher Parteifunktionäre aus Sibirien, mit der der immer hilfsbereite Schurik eine Scheinehe eingeht; seine invalide aber anziehende Chefin Valerija, die er bis zu ihrem Tode auch sexuell versorgt; die verrückte, im Selbstmord endende Psychopathin Swetlana und noch eine ganze Anzahl anderer Frauen.

    Der liebe arme Schurik tut immer alles, was von ihm erwartet wird, kann es natürlich doch nie allen recht machen und ist deshalb ständig von Schuldgefühlen geplagt. Das alles ist sehr komisch, oft auch todtraurig, und es gibt viele wunderbar präzis beobachte Szenen und Details. Trotzdem werden die eigentlich bewegenden Schicksale all dieser Menschen sehr bald langweilig. Die charakteristische gelassene Erzählhaltung, die in den gelungenen Werken der Autorin adäquater Ausdruck einer souveränen, abgeklärten Sicht auf die Welt ist, verkommt hier zur Masche. Tragisches wie Lächerliches wird im gleichen aufgesetzt munter schnoddrigen Ton voller witziger Pointen abgehandelt. Das mag in einem kurzen Text sicherlich amüsant sein, in einem Roman von mehreren hundert Seiten jedoch beginnt dieser Stil zu nerven. Die vielen Einzelschicksale - geschildert mit dem immer gleichen routinierten humoristischen Lakonismus - ergeben eine kurzatmige Prosa ohne Spannungsbogen, der jede Tiefe fehlt. Schade! Warten wir auf Ljudmila Ulitzkajas nächstes Buch!

    Ljudmila Ulitzkaja: Ergebenst, euer Schurik
    Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt, München (Carl Hanser Verlag) 2005, 494 Seiten, 24,90 Euro.