Archiv


Eine Liebe und ein Schlaganfall

Ursula Frickers neuer Roman erzählt zwar eine Liebesgeschichte, ist aber auch eine drastische, lebensnahe Versuchsanordnung, die nach den Grenzen des menschlichen Lebens fragt. Das Leben der Hauptfigur Katja gerät aus der Bahn, weil ihr Mann einen Schlaganfall erleidet.

Von Insa Wilke |
    Zu den wichtigen Themen der Weltliteratur gehört nicht nur die Liebe, sondern auch das Sterben. Verlage klagen zwar manchmal darüber, dass sich traurige Themen nicht so gut verkaufen, aber eigentlich kann man das kaum glauben. Denn die Literatur erweist uns ja einen großen Dienst, wenn sie sich mit Ereignissen beschäftigt, vor denen wir im Leben oft sprachlos stehen. Eine Autorin, die immer wieder versucht, diese Sprachlosigkeit zumindest durch ihre Bücher zu überwinden, ist Ursula Fricker.

    "Wie viel Helligkeit braucht der Mensch, wie viel Dunkelheit?"

    Das fragt sich Katja, eine Berliner Architektin und die Hauptfigur in Ursula Frickers Roman "Außer sich", der in diesem Herbst für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. Bis in die Sprache hinein gerät Katjas Leben aus den Fugen, als ihr Mann auf dem Weg zu Freunden einen Schlaganfall erleidet. Das passiert schon auf Seite 32, nach einem ganz sanften Anfang, und wie Katja steht man als Leserin die folgenden 220 Seiten unter Schock.

    Auch in ihren ersten beiden Romanen war Fricker keine Freundin von ausschweifenden Expositionen. Aber in diesem Roman stürzt sie sich, ihre Figuren und uns so heftig und unvermittelt in die Katastrophe, wie es eben im Leben passieren könnte. Da wird nichts abgefedert. Diese Autorin traut der Literatur viel zu. Und ihren Lesern. Zum Beispiel, dass sie aushalten, einige ihrer wohlweislich verdrängten Ängste formuliert zu finden: wie die Angst, den geliebten Menschen, mit dem man Sicherheit und Glück gefunden hat, zu verlieren. Und zwar nicht an den Tod, sondern an eine Halbwelt, in die Sebastian, Katjas Mann, verschwindet. Sein Gehirn wird sich von dem Schlaganfall nicht erholen.

    "Mit kaum noch menschlicher Stimme knurrte, winselte, jaulte er. Als probiere er aus, zu welchen Verrenkungen Stimmbänder imstande sind, begann er kleine kuriose Laute zu fabrizieren, gefiederte, gesäuselte Variationen. Zischlaute und Spucklaute. Nachtvogelrufe, hohle, klagende Schreie."

    Niemand weiß, was in Sebastians Kopf vorgeht, ob er etwas sieht, sich erinnert, etwas spürt. Medikamente schwemmen in den folgenden Wochen seinen Körper auf. Sein Geruch verändert sich. Mit ihm gemeinsam verwahrlost die Erzählerin:

    "Schlafwandler, verloren gegangene Kinder, wir alle beide."

    Katjas Geschichte ist die eines modernen Orpheus: Verzweifelt versucht hier eine Frau, ihren Mann aus der Totenwelt zurückzuholen. An Sebastians Stelle ist dieses neue Wesen getreten und verwächst mit der Erzählerin, bis ihr das Bild des einstigen Geliebten fremd geworden ist. Fricker erzählt mit "Außer sich" eine Liebesgeschichte und Katjas individuelle Tragödie. Sie fragt auch – indirekt, erzählend – nach den Grenzen menschlichen Lebens, die von der Intensivmedizin gedehnt werden. Ist das ein Glück oder ein Unglück, den Tod aufschieben zu können? Ist Sebastians Existenz noch eine würdige, lebenswerte, ihm und den anderen zumutbare? Was heißt das: Leben?

    Aber Frickers Roman ist mehr als eine extreme Versuchsanordnung. Mit Bedacht verleiht Fricker ihren Figuren nach und nach durch Rückblenden ein Umfeld, eine Herkunftsgeschichte, deutet Zusammenhänge an und stellt andere infrage. Plötzlich fragt man sich, ob diese so glückliche Liebe nicht von Beginn an gefährlich fragil war. Mit dem befreundeten Aussteiger Thomas wird ein Gegenmodell zu Katjas beruhigtem Leben erzählt.

    Da geht es auf einmal um grundsätzlichere Wünsche und Ängste, um den Widerspruch von persönlicher Freiheit und dem Bedürfnis, sich an einen Menschen zu binden. Nicht umsonst sind die Hauptfiguren Architekten, die durch ihre Arbeit, also die Häuser, die sie bauen, die Vision einer humanen Gesellschaft sichtbar werden lassen möchten. Zum Beispiel, indem man ein Behindertenheim nicht billig und funktional baut, sondern so, dass sich die Menschen darin wohlfühlen. Umsetzen lässt sich das selten. Nicht lange vor seinem Schlaganfall kapituliert Sebastian:

    "Lieber irgendeine stumpfe Arbeit tun, als sich tagtäglich die Träume zu ruinieren."

    Das Besondere an Frickers Vorgehensweise ist, dass sie diese ethischen und sozialen Fragen nicht direkt stellt, sondern in die Sprache verschiebt. Katjas Geschichte geht einem so an die Nieren, weil Fricker den Schock und Katjas Reaktion, Gefühle und Reflexionen auszusetzen, stilistisch übersetzt: kurze, oft unvollständige Sätze, die manchmal harsch wirken in ihrem Staccato, aus der Defensive abgeschossen. Wie betäubt protokolliert die Erzählerin, was vor sich geht. Deswegen berührt einen dieses Buch nicht nur, sondern fasst einen an, dringt ein, stellt eine wie Katja vor die entscheidenden Fragen. Zu spät, um auszuweichen.

    Gefühle brechen sich in scheinbar nebensächlichen Bildern Bahn. Katja beobachtet zum Beispiel, wie ein Haus gesprengt wird:

    "Das letzte Geschoss pulverisiert. Nur noch die Rückwand steht, wankt, stürzt. Übrig bleibt: ein Haufen Schutt. Ein Haufen Lebensjahre. Streit und Freude, letzte Nächte. Kinderlachen, Krankheit, Hoffnung."

    Das ist nicht nur ein Bild für Katjas Zustand, sondern auch für die Art, wie Menschen mit sich und miteinander umgehen. Es ist das Bild einer großen, kalten Einsamkeit. Die Lektüre dieses Romans erschüttert und verstört wie dieses Bild. Und sie ist tröstlich, weil sie uns zwingt, die Dunkelheit zuzulassen. Seltener als behauptet gelingt der Literatur diese Wirkung.

    Ursula Fricker: "Außer sich", Rotpunktverlag 2012, 255 Seiten, 24 Euro