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Eine Ode an die Literatur

Wer Bücher schreibt, will Gefühle festhalten und jederzeit abrufbar machen, meint Kurt Drawert in seiner Anleitung zum Schreiben. Literatur reinige zudem die Sprache - und verändere so die Welt.

Von Brigitte Neumann |
    Jeder von Kurt Drawerts Gästen wird sofort darauf stoßen. Denn gleich im Flur hängt die Zeitungsseite mit dem Artikel "Der entrissene Text. Internetmodus", gerahmt und unter Glas. Er war ein Vorabdruck aus Drawerts neuem Buch "Schreiben. Vom Leben der Texte" in der "Neuen Züricher Zeitung". Der Artikel wirbelte einigen Staub auf, denn Drawert erläutert darin, wieso Internet und Literatur nicht zusammenpassen.

    "Für Literaturtexte bedeutet ein Auftritt im Internet immer Verlust. … (Denn) wie der Raum über das Bild und der Rahmen über den Inhalt mitverfügt, so verfügt das Medium über die Substanz, die es weiterleitet."

    Wie aber kann das Medium Internet über einen literarischen Text verfügen? Jeder literarische Text ist ein vollendetes Werk. Drawert sieht ganz richtig, dass das Netz den abgeschlossenen Text jedoch nicht mehr gelten lässt. Weil das Internet so schnell ist und im Prinzip alles bietet (man muss es nur finden), haftet fertigen Werken schon im Moment der Veröffentlichung der Geruch des Veralteten und Unvollkommenen an. Das Internet hat als neuen Texttypus den unendlichen Text hervorgebracht. Das ist eine Art schriftlicher Austausch zwischen Autoren, die gleichzeitig auch Leser sind. Unendliche Texte gibt es angeblich auch in literarischer Form. Eine Konferenz der germanistischen Avantgarde letzten Herbst in Berlin nannte sich entsprechend "LitFlow".

    Als "Der entrissene Text" in der Zeitung stand, machte Kurt Drawert unfreiwillig Bekanntschaft mit dieser Art von Community - auf Umwegen. Denn seine Kritiker meldeten sich nicht bei ihm, auch nicht bei der "Neuen Züricher Zeitung". Nein, sie äußerten sich ausschließlich in Foren im Netz. Und ihre Kritik lautet im Kern schlicht: Drawert sei rückwärtsgewandt, ein Feind der Fortschrittsmaschine namens Internets. Der so Kritisierte wiederum bekam von der ganzen Entrüstung erst etwas mit, als ein Bekannter ihm einen Teil der Posts mailte.

    "Und da hab ich festgestellt, dass genau das in dieser Kette passierte, was ich kritisierte in meinem Essay. Dass nämlich sich ein Gegenstand auflöst und seinen Ursprung völlig verliert. Schon in der zweiten und dritten Antwort werden dann nur noch kleine Partikel rezipiert, die den Kontext ausgrenzen und für ein völlig verzerrtes Reflexionsbild sorgen. Im Grunde genommen hat also diese Schleife, diese kleine Sprechbewegung oder Austauschbewegung in sich eigentlich gezeigt, was ich ihr in meinem Text vorgeworfen habe."

    Wie unergiebig auch immer die Reaktion auf Drawerts "entrissenen Text" war: Selten erhielten die Gedichte, die Romane und Essays des gebürtigen Brandenburgers diese breite Aufmerksamkeit. Er gilt als sehr kluger Kopf, aber gleichzeitig auch als Schriftsteller für einen speziellen, kleineren Kreis von Lesern. Mit dem neuen Buch "Schreiben. Vom Leben der Texte", das schon auf Platz 2 der renommierten SWR-Bestenliste war, könnte sich das nun ein wenig ändern. Und Drawert scheint die Aufmerksamkeit zu genießen, nach dem Motto: Viel Feind, viel Ehr. Und so kam es wohl, dass "Der entrissene Text" zum Wandschmuck in Drawerts Flur avancierte. Außerdem ist er eines der stärksten Kapitel im Buch – eine kleine Kampfschrift.

    Im Kern kreist Drawerts Buch "Schreiben" jedoch viel allgemeiner um die Möglichkeiten literarischer Sprache. Um die Macht der Sprache überhaupt, um unser Verlangen danach, uns in ihr wiederzufinden. Aber auch um ihre Unzulänglichkeiten. Gemeint ist hier: Sprache trifft nie genau den Punkt. Das Wort bezeichnet die Sache immer nur ungefähr. Auch literarische Sprache sei immer mehrdeutig und unklar, schreibt Kurt Drawert. Denn das Eigentliche, was sie sagen wolle und worauf sie all ihre Kraft verwende, sei, wie das Auge im Orkan, im Nichtsagbaren verborgen. Und zwar, weil Literatur eben meist von Dingen handle, die unfassbar seien. Emotionen zum Beispiel.

    "Im literarischen Text geht es primär um die Archivierung eines Gefühls, das aktuell werden kann im Augenblick des emphatischen Lesens. Die Geschichte der Literatur ist eine Geschichte der Gefühle und nicht der Ideen; auch der Ideen, aber der Ideen, die sich verkörperlicht haben und dem Körperlichen entstammen. Soziale Ideen sind Folge, nie Anfang – und eben dafür brauchen sie die Literatur."

    Viele Sätze aus diesem Buch wären ein ganzes Kapitel wert. Und das gilt nicht nur für die eben zitierten. Sie scheinen zum Bersten voll mit Denkstoff. Es geht um Leben und Sprache, und der Leser spürt, für Drawert gibt es kein spannenderes Thema. Zum Beispiel, wenn er den konkretistischen Nutzer der Sprache mit dem literarischen vergleicht. Der konkretistische Sprecher erlaubt sich nur zu sehen, zu fühlen und zu sagen, was alle sehen, fühlen, sagen und bleibt so eingeschlossen im Klischee. Der literarische eignet sich die Sprache an, und erschließt sich damit immer neue Welten. Wir erinnern uns an einen andernorts gefundenen Satz von Henry James: "Stories happen to people who know how to tell them." Zu Deutsch etwa "Nur der kann etwas erleben, der auch Worte dafür hat." Wittgenstein hat das aus anderer Perspektive ähnlich gesehen: Die Qualität der Sprache bestimmt die Weite des Denkhorizonts. Und jetzt Kurt Drawert - über die Sprache:

    "Sie hat die Kraft, auf die Gesellschaft einzuwirken, sie zu verändern. Ich bin nicht der Meinung, dass Literatur die Welt nicht verändert. Wir dürfen uns nur nicht das so linear vorstellen. Da ist ein Buch, und dann gibt es eine Erkenntnis darüber, und dann wird die Welt verändert. Das ist absurd. Aber sie ist ein gewisses Korrektiv zu der Welt an sich und sie sorgt dafür, dass die Sprache eine Art Blutwäsche erfährt. Also dass sie gewaschen wird und gereinigt wird durch Literatur, gerade durch die Lyrik. Und dieses Gegengewicht ist Wirkung an sich. Und das hat Einfluss auf die Welt. Und darum glaube ich daran, dass der Künstler, mehr noch der Schriftsteller, ein wichtiges Element der Gesellschaft ist."

    Kurt Drawert hat in diesem Essay "Schreiben. Vom Leben der Texte" alles gesammelt, was es über das literarische Handwerk zu wissen gibt, auch über die Weihen dieser Arbeit und die Gefahren des Absturzes. Ein wenig schaumgebremst schreibt er über Kritiker, Literaturpreise und den Literatur-Event-Zirkus, den ganzen Betrieb, zusammenfassend:

    "Erfolge gibt es keine – wer das versteht, kann auch schreiben."

    "Schreiben. Vom Leben der Texte" ist ein essayistisches Potpourri aus frischen, klugen und schwerwiegenden Gedanken zur Sache. Gerne auch ein wenig provokant wie das erstaunliche, an die Theorien des französischen Psychoanalytikers Lacan angelehnte Kapitel "Männliche und weibliche Texte". Es ist Bestandteil einer Erläuterung über die Mühen des Anfangs. Am Anfang ist das weiße Blatt. Und das Raunen der Mutter und des Vaters im Kopf des Schriftstellers. Wobei für Drawert die Rollenverteilung klar ist: Der Vater sagt, was gut und richtig ist, Ge- und Verbote sind sein Revier. Die Stimme der Mutter hingegen steht für Chaos und Freiheit, aber auch für Wahnsinn. Der literarische Text brauche beides: Struktur und Chaos, schließt Drawert.

    Das alles klingt sehr simpel. Drawert, der sonst die Dinge bis in ihre kleinsten Verästelungen hinein wahr- und wichtig nimmt, setzt beim Geschlechterthema auf Schema F. Aber kleine Makel erhöhen die Schönheit eines im Grunde gelungenen Werks, das allerdings nicht leicht zu lesen ist. Für Literaturenthusiasten jedoch, die wissen, dass manche Bücher auch erobert sein wollen, ist Kurt Drawerts Essay "Schreiben. Vom Leben der Texte" ein unerschöpflicher Quell überraschender Einblicke.

    Kurt Drawer: "Schreiben. Vom Leben der Texte".
    C.H. Beck, München 2012, 19,95 Euro.