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Eine Welt voller Grenzen

Alice Schmids Buch "Dreizehn ist meine Zahl" erzählt die Geschichte der neunjährigen Lilly, die in einem Dorf in der Schweiz Ende der 50er-Jahre lebt. Sie erfährt Armut und Gewalt, schafft sich aber Fluchtorte und setzt eigene Grenzen.

Von Liane Dirks | 14.11.2011
    Nachts kann sie nicht schlafen und tagsüber sackt sie demzufolge gelegentlich zusammen. Sie sackt nicht zusammen, sie bricht zusammen, völlig, unkontrolliert und schnell. Kurzfristig ist sie dann einfach nicht mehr da. Diese "Sie" ist keine an Narkolepsie leidende Frau, sondern ein Mädchen: Lilly, neun Jahre alt. Ein eigenwilliges Kind, aufbegehrend, äußerst phantasiebegabt, mutig und mit einem riesengroßen Herzen versehen. Die Kraft dieses Herzens braucht Lilly zum Lieben, allen voran den Vater, eine Erfinderseele, auf der der Fluch der Erfolglosigkeit zu liegen scheint, gefolgt von der Mutter, die sich gegen die Unbilden der Welt mit Gebeten und vor allem mit Schlägen zur Wehr setzt. Und wenn sie schlägt, dann richtig, zum Mitzählen, damit man es sich besser merken kann: 13 mal. Da heißt es natürlich aufpassen, wachsam sein, alles richtig machen, nicht auffallen und immer schön weiter lieben. Das ist schwer, denn Lilly ist nicht allein mit diesen Eltern. Da sind auch noch die ältere Schwester, die der Nachzüglerin mit nichts als Verachtung begegnet und der ältere Bruder, der der Zahl 13 noch eine weitere Facette hinzufügt. "Was ist das, Herr Pfarrer, das nachts klopft im Treppenhaus und immer näher kommt?" fragt Lilly den Dorfgeistlichen eines Tages in der Schule. Der will wissen, wie es tönt und sie beginnt zu zählen, bis 13.

    "Nehmt euch in acht vor dieser Zahl", hatte der Pfarrer zuvor gesagt und jetzt erklärt er Lilly, was das ist, was nachts immer näher kommt:

    "Das ist der Tod, ich warne euch, er holt einen, wenn man es nicht erwartet. Alle müssen einmal mit ihm gehen. Wichtig ist, immer bereit zu sein für ihn, mit einem reinen Herzen. Er kann plötzlich kommen, der Tod."

    Keine leichte Kost für den Grundschulunterricht und keine wirkliche Antwort auf Lillys Frage. Vielleicht war es ja auch gar keine richtige Frage, denn Lilly weiß eigentlich, was nachts immer näher kommt: Es ist der Bruder. Mit 13 Schritten kommt er und bis 13 zählt sie, bei dem, was sie heimlich im Badezimmer mit ihm und für ihn machen muss. Schläft sie nachts, droht also Gefahr. Schläft sie nicht, droht diese Gefahr ebenso. Und schläft sie ein, wenn die Gefahr vorbei ist, dann "passiert" es ihr. Sie ist Bettnässerin, ein weiteres Argument für die Mutter sich der Zahl 13 zuzuwenden. Ein Kreislauf, aus dem es kein Entkommen gibt, wie eine Schlinge zieht die 13 das Leben der kleinen Lilly zu.

    Die Welt, von der uns Alice Schmid erzählt, ist eng und voller Grenzen: der Grenze zwischen dem Kanton Luzern und dem Kanton Bern, zwischen Protestantismus und Katholizismus, zwischen Bergen und Tälern, zwischen bäuerlicher Archaik und dem gelegentlichen Aufblitzen der Moderne. Beherrscht wird diese Welt von einer Schlucht, dem sagenumwobenen Änziloch, in dem die Geister wohnen, zum Beispiel von hochmütigen Mädchen, die nicht gehorchten. Die Grenzen, von denen Alice Schmid erzählt, werden ständig überschritten, so oft, dass sie aufhören zu existieren. Zum Beispiel die Grenze zwischen Mensch und Tier, genauer gesagt, zwischen Kind und Tier. Leser dieses Romanes seien beruhigt, wir sind in den 50er-Jahren. So etwas, das wollen wir wenigstens glauben, passiert heute nicht mehr, dass der Bauer Vieh und Kind gleichermaßen zur Befriedigung gebraucht, wenn ihm die Frau abhanden gekommen ist. Ja, auch das wird erzählt.

    Ein bisschen viel des Schreckens. Wäre da nicht das riesengroße Herz dieser kleinen Lilly, die es sich nicht nehmen lässt, ihre Grenzen selbst zu setzen. Die sich mit den Füßen um das Kreuz an der Änzilochschlucht schlingt und in die Tiefe schaut, die die Geister, von denen erzählt wird, leibhaftig sehen will, auch wenn der Pfarrer noch so sehr warnt. Lilly, die sich ihre Fluchtorte sucht und schafft, die an die Zauberkraft der Wunschlinde glaubt, an die Magie der Zahlen und daran, dass alles gut wird. Irgendwann. Erstaunlicherweise glaubt man ihr, denn sie hat sich etwas bewahrt: Humor. Zwar trägt er schwarz, doch er trägt uns durch dieses Buch.

    Ein Buch, dem man - und das ist das einzige Manko - gelegentlich ein anderes Erzähltempus gewünscht hätte. Das durchgehende Präsens, den kindlichen Zugang auf die Welt imitierend, in dem sich die Ereignisse unkommentiert einfach aneinander reihen, es wirkt an einigen Stellen aufgesetzt, vor allem unnötig. Man folgt der jungen Protagonistin auch ohne diesen vermeintlichen Kunstgriff.

    Alice Schmid legt ein spätes literarisches Debüt vor, das in gewissem Sinne keines ist. Denn auch ihre Filme erzählen aus der Sicht der Kinder, mit der Sprache der Kinder, von der Kraft der Kinder und von dem, was ihnen angetan wurde und immer noch angetan wird. Ob es die kleine Ria ist, die in Kambodscha durch Landminen beinahe zu Tode kommt oder Triwheni, der indische Junge, der eingesperrt in ein Kellerverlies Teppiche knüpfen muss, oder die Kindersoldaten in Afrika, Alice Schmid gibt ihnen Stimme.

    "Wer da gegen wen gekämpft hat, interessiert letztlich so wenig wie das "warum", denn das Bild, das uns sieben junge Menschen von der Brutalität und der Sinnlosigkeit des Krieges vermitteln, ist von einer so beklemmenden Dichte und von einer so allgemeinen Gültigkeit, dass es auf alle Kriege dieser Welt übertragbar ist."

    Mit dieser Begründung wurde ihr Film "Ich habe getötet" mit dem deutschen Menschenrechtsfilmpreis ausgezeichnet. In Alice Schmids Roman "Dreizehn ist meine Zahl" herrscht auch eine Art Krieg. Es gibt einen Sieger, die kleine Lilly. Wie die Kinder am Napf heute leben, wird im Winter dieses Jahres im Kino zu sehen sein.

    Alice Schmid: "Dreizehn ist meine Zahl", Verlag Nagel & Kimche, 160 Seiten, 15,90 Euro