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Endlich wieder in Kirgistan

Die russische Volkswirtschaft profitierte lange Zeit von ihren billigsten Arbeitskräften: Wanderarbeiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Doch im Sog der Wirtschaftskrise sind die Wanderarbeiter, die ersten, die untergehen und so kehren jetzt viele von ihnen in ihre Heimat zurück - nicht selten mit leeren Händen.

Von Andrea Rehmsmeier | 24.11.2009
    Eigentlich sind es nur zwei Eisenrohre und ein langer Metallhebel: der neue Brunnen der Familie Kondubaev. Stolz blickt Aziz auf den armdicken Strahl von kaltem, klaren Wasser: Einen ganzen Tag hat der Student gegraben, bis er endlich auf Grundwasser stieß, dann hat er die Rohre fixiert. Ab jetzt wird das Haus unabhängig sein von der städtischen Wasserversorgung: Die ist rationiert, kostet aber trotzdem mehr, als die Familie sich leisten kann:

    "Als es diesen Brunnen noch nicht gab, da hatten wir im Haus jeden Tag nur zwei Stunden fließendes Wasser. Ich will aber, dass wir immer Wasser haben. Ich will, dass es mit Hochdruck geschossen kommt. Darum werde ich noch tiefer graben und einen kleinen Motor einbauen. Drei Tage brauche ich noch. Irgendetwas muss ich ja schließlich für unser Zuhause tun!"

    Aziz genießt es sehr, wieder in Petrovka zu sein, einem Städtchen nahe der kirgisischen Hauptstadt Bischkék. Gerade vor zwei Wochen ist er aus Moskau heimgekehrt. Dort hat er gearbeitet, um seine Studiengebühren zu finanzieren - als Kellner, als Verkäufer, als Bauarbeiter.

    Inzwischen hat ihn der kirgisische Alltag wieder eingeholt: die Arbeit mit den Hühnern, mit dem Haus und dem Gemüsegarten, das dauernde Nachrechnen und Sparen. Jetzt wohnt er wieder im Haus seiner Mutter, zusammen mit der kleinen Nichte und dem ältesten Bruder. Der hat sich für eine religiöse Laufbahn als Imam entschieden, darum verdient er nichts. Sie leben zu viert von der Rente der Mutter:

    "Als Rentnerin bekomme ich 1600 kirgische Som im Monat, das sind 25 Euro. Das reicht einfach nicht, dafür kriegt man gerade mal einen Sack Mehl. Aber wir brauchen doch auch Zucker und Butter, und wir müssen für Wasser und Strom zahlen. Da bleibt zum Leben nichts mehr übrig."

    Maria Kondubaeva hat bei der Eisenbahn gearbeitet und später auf einer Milchkolchose. Damals gab es die Sowjetunion noch. Heute dagegen ist es so gut wie unmöglich, in Kirgistan eine legale, gut bezahlte Anstellung zu finden: Wer sich stark und gesund fühlt, der geht. Von Marias neun Kindern leben drei ständig im Ausland. Eine Tochter ist in Deutschland verheiratet, ein Sohn und eine andere Tochter arbeiten in Moskau:

    "Sarina, meine Älteste, war die Erste, die nach Moskau gegangen ist. Ihre Tochter Karina hat sie bei mir gelassen. Ich fand das gut, ich wollte, dass sie Geld verdient - dann kann sie uns finanziell unterstützen. Im Mai hat sie uns 12.000 Rubel geschickt, fast 300 Euro. Viel ist das nicht. Aber jetzt kann ich die Kleidung und die Schulkosten für die Kleine bezahlen. Na, ich klage nicht. Es reicht."

    Aziz schaut seine Mutter an. Er weiß besser als sie, welches Opfer seine Schwester ihrer Familie bringt. In Moskau hat er mit ihr zusammen in einer Wohngemeinschaft gelebt - mit 18 Menschen in zwei Zimmern. Wie sie hat er mit den russischen Behörden um Dutzende amtlicher Bescheinigungen gekämpft - um die Arbeitserlaubnis, die Meldebescheinigung, das Gesundheitszeugnis und viele mehr. Und er hat beobachtet, wie sehr sie unter der Trennung von der kleinen Karina leidet. Über ein Jahr ist es her, seit Mutter und Tochter sich das letzte Mal gesehen haben - wann Sarina das nächste Mal nach Petrovka kommt, das steht in den Sternen. Heute ist Karina neun Jahre alt. Jetzt steht sie mit großen Augen am Tisch und lauscht den Gesprächen der Erwachsenen über das Leben in Moskau. Dann zupft sie ihrer Oma am Ärmel: Sie möchte ein Gedicht aufsagen, das sie in der Schule gelernt hat:

    "Alles tue ich für Mama. Für sie gehe ich zum Arzt, für sie lerne ich Mathematik. Für sie wasche ich meine Hände und esse sogar Möhren. Aber Mama ist gerade auf Dienstreise, schon den fünften Tag. Darüber bin ich traurig, schaue nur Fernsehen. Und mein Papa fliegt im Flugzeug davon, mit der Zeitung in der Hand."

    Aziz wirkt nachdenklich an diesem Nachmittag. Er fällt eine Entscheidung: Vielleicht wird er im nächsten Semester noch einmal pausieren. Vielleicht wird er nach Moskau zurückfahren.