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Endstation Pfandleihhaus

England stehen schmerzhafte Einschnitte bevor: Es muss ein finanzielles Rekorddefizit von mindestens 150 Milliarden Pfund bekämpft werden. Doch nicht nur die öffentlichen Finanzen befinden sich in der Schieflage - auch die privaten Schulden haben besorgniserregende Ausmaße angenommen.

Von Julian Bohne | 23.11.2010
    Eine belebte Einkaufsstraße im Londoner Stadtteil Hackney. In guter Lage, zwischen Bäckereien, Videotheken und Schuhgeschäften, befindet sich hier ein Pfandleihhaus. Bunte Plakate im Schaufenster versprechen schnelle und unbürokratische Kredite. Als Sicherheit hinterlegen die Kunden Schmuck, in der Regel Gold. So wie Rico, ein junger Musiker Mitte 20:

    "Ich habe hier gerade eine Halskette aus Weißgold eingetauscht, mit einem Anhänger, der Jesus darstellt. Ich habe 200 Pfund dafür bekommen. Damit komme ich bis nächste Woche über die Runden. Mein Tantiemenscheck ist nicht gekommen, darum brauche ich Geld bis nächste Woche. Das geht hier ganz schnell und unkompliziert - du kommst rein, gibst deinen Schmuck ab, bekommst Cash dafür und kannst wieder los. Das Ganze dauert keine halbe Stunde."

    Es ist nicht das erste Mal dass sich Rico auf diese Weise Geld besorgt - und er steht nicht alleine da. Für immer mehr Briten ist das Verpfänden von Wertgegenständen eine durchaus realistische Alternative, schnell an Geld zu kommen. Entsprechend damit ist auch die Zahl der Pfandleihhäuser gestiegen. Benjamin Lever, Eigentümer der Firma Cashier Pawnbrokers, ist zufrieden:

    "Das Pfandleihgeschäft ist in den letzten drei Jahren enorm gewachsen, gerade seit Beginn der Wirtschaftskrise Ende 2007, Anfang 2008. Und ich gehe davon aus, dass die Branche in den nächsten fünf Jahren weiterhin stark wachsen wird. Ich könnte mir sogar vorstellen dass es, ähnlich wie bei den großen Kaffeeketten, bald an jeder Einkaufsstraße eine Filiale eines Pfandleihers geben wird."

    Die Verschuldung privater Haushalte im Königreich ist um ein vielfaches höher als die der Deutschen. Schuldnerberater in Großbritannien wollen herausgefunden haben, dass ein durchschnittlicher britischer Haushalt mit knapp 60.000 Pfund verschuldet ist - umgerechnet rund 70.000 Euro. Jo Parsley ist Referentin bei der Organisation Credit Action:

    "Es war in den letzten Jahren relativ einfach, sich hierzulande Geld zu leihen. In den letzten 20 bis 30 Jahren ist die Verbreitung von Kreditkarten buchstäblich explodiert. Die heute über-30-Jährigen können sich gut daran erinnern, dass sie, sobald sie volljährig wurden, mit Werbung für Kreditangebote geradezu überschwemmt wurden. Und die Leute haben natürlich den Banken vertraut und sich gedacht: 'Wenn die uns für kreditwürdig halten, dann wird das auch so sein. Das Problem ist, dass jetzt viele Leute überschuldet sind, dass sie also zu wenig verdienen, um die Rückzahlungen bewältigen zu können. Beratungsorganisationen wie unsere erhalten Hunderttausende von Anrufen im Jahr. Das zeigt uns, dass viele Menschen ihre Schuldenlast nicht mehr bewältigen können und kostenlosen Rat suchen."

    Laut Credit Action ist die Gesamtsumme der Privatschulden in letzter Zeit leicht rückläufig. Trotzdem, so Jo Parsley, sei die hohe Pro-Kopf-Verschuldung schlecht für die wirtschaftliche Erholung des Landes.

    "Wenn der durchschnittliche Haushalt nicht mit knapp 60.000 Pfund verschuldet wäre, dann könnten die Leute ihr Geld ausgeben anstatt ihre Schulden abzubezahlen. Das würde den Konsum und somit die Wirtschaft ankurbeln. Wir könnten also der Wirtschaft schneller wieder auf die Sprünge helfen, wenn wir nicht so verschuldet wären."

    Pfandleiher profitieren von der Situation. Immer mehr Menschen ist wegen ihrer Schulden der Zugang zu weiteren Krediten versperrt. Knapp zwei Millionen Briten haben nicht einmal ein Bankkonto - sie sind ohnehin von den herkömmlichen Kreditmärkten ausgeschlossen. Die Pfandleiher haben sich in Position gebracht, um diese Lücke im Markt zu schließen. Benjamin Lever konstatiert, dass die Berührungsängste mit seiner Branche weniger werden

    "Wir haben lange unter einem Stigma gelitten - Pfandleiher galten immer als fragwürdige Geschäftemacher in dunklen Hintergassen, direkt aus den Büchern von Charles Dickens. Doch das hat sich geändert. Wir haben jetzt ein modernes Image. Besonders Leute aus der Mittelklasse, die man sonst nie in einem Pfandleihhaus gesehen hätte, kommen jetzt regelmäßig zu uns und werden Kunden. Das hätten sie noch vor Kurzem wahrscheinlich nicht getan."