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Enttabuisierung einer Gesellschaft

Kraftvoll und unmissverständlich deckt Sello Duiker die Brüche in der südafrikanischen Post-Apartheid-Gesellschaft auf: Die alten Rollenklischees haben ausgedient, Neid und Klassenhass gibt es auch unter Schwarzen. Gewalt und Sexualität dominieren. Neue Leitbilder und Ideale muss jeder für sich neu finden.

von Inge Zenker-Baltes |
    "Die stille Gewalt der Träume" – ein wunderbarer Titel und ein gewaltiges, aufregendes Buch! Der 1974 in Soweto geborene schwarze Südafrikaner Sello Duiker hat es geschrieben, bei seinem Erscheinen 2002 von der internationalen Presse begeistert aufgenommen, gibt es den Roman jetzt auf Deutsch.

    "Der Roman handelt von einem Typen, der in einer psychiatrischen Anstalt landet, weil er seine Vergangenheit und Gegenwart nicht in Einklang bringen kann. In gewisser Weise ist das eine Metapher für Südafrika, weil wir uns nie wirklich unserer Vergangenheit gestellt haben."

    Duiker erzählt die Geschichte des der gebildeten schwarzen Mittelschicht entstammenden jungen Tshepo. Der lebt in Kapstadt in den Tag hinein, umgibt sich mit einer Aura tiefer Melancholie, vernachlässigt sein Studium und ist zerfressen vom Hass auf seinen Vater, verdächtigt ihn, schuld am grausigen Mord an der geliebten Mutter zu sein.

    "Ich könnte eine Ewigkeit damit zubringen, mir einen Vater zu erträumen, der mir die Welt bedeutet hätte. Ich versuche, über meinen Vater hinaus zu sehen. Ich muss mir die Frage stellen, warum ich Männern nicht in die Augen sehen kann, meiner eigenen Männlichkeit nicht erlaube, sich zu entfalten, mir niemand beibringen wird, ein Mann zu sein."

    "Ich habe großes Interesse daran, über männliche Identität nachzudenken und zu sprechen. Denn in Südafrika wurden so lange Männer für stark gehalten, und auch wenn man sie nicht dafür hielt, waren sie doch die Unterdrücker. Und nun, da all dies nicht mehr gilt, müssen Männer plötzlich mit einer neuen Definition klarkommen. Wer sind wir eigentlich? Was wollen wir? Wie denken wir über Demokratie, über die Rechte von Frauen und Kindern?"

    Seiner vermeintlichen Mut- und Kraftlosigkeit versucht Tshepo durch exzessiven Drogenkonsum aufzuhelfen. Doch erlöst ihn das nicht von seinem Lebensüberdruss, stärkt nicht sein unterentwickeltes Selbstbewusstsein. Stattdessen landet er mit unschöner Regelmäßigkeit in der geschlossenen Abteilung von Valkenberg, einer psychiatrischen Anstalt, wo er auf stumpfe, teils psychotische, teils gewaltbereite Mitpatienten und sadistische Wärter trifft.

    "Die stille Gewalt der Träume spricht von einer Art geistiger Gewalt, die dir keine Chance gibt herauszufinden, wer du bist, denn man sagt dir, wer du zu sein hast, was du denken sollst."
    "An manchen Tagen kann ich Farben nicht erkennen, Vögel nicht hören, und die Menschen scheinen mich mit ihren Augen zu verschlingen. Seltsamerweise ist es genau an diesen Tagen, dass ich meine Einsamkeit fast akzeptieren kann."

    Jedes Mal, wenn Tshepo aus der Klinik freikommt, muss er sich eine neue Bleibe suchen. Und mit sicherem Gespür sucht er sich immer die falschen Mitbewohner aus. Er wird schikaniert, bestohlen und schließlich brutal vergewaltigt. Für einige Tage kriecht er bei seiner Freundin und Vertrauten Mmabatho unter.

    Mmabatho, eine attraktive, junge schwarze Schauspielerin, ist die einzige menschliche Konstante in Tshepos Leben, gebildet wie er selbst und voller Aggression gegen Männer, vor allem dann, wenn die ihr von Liebe sprechen.

    "Eine Frau muss weit gehen, um sich zu finden. Sie muss die Sicherheit ihres Dorfes verlassen, an den Männern vorbeigehen, die an den Toren herumlungern. Sie muss in sich gehen und das kleine Mädchen kennenlernen, das von allen mit Lügen beschützt wurde."

    Durch eine Intrige verliert Tshepo seine Stelle als Kellner und findet schließlich einen lukrativen, wenn auch derart tabuisierten Job, dass er nicht einmal mit Mmabatho darüber reden kann.

    "Ich liebe es, über Dinge zu schreiben, von denen niemand etwas hören möchte. In der südafrikanischen Gesellschaft sind Homosexualität, Straßenkinder und Prostitution ein großes Tabu, doch gibt es das alles, aber niemand will darüber schreiben oder reden.

    Und als ich darüber schrieb, war ich sehr überrascht, wie viele Leute es lasen, dann zu mir kamen und sagten, wir sind froh, dass du das geschrieben hast, denn es bedeutet, dass wir nicht so viel anders sind als alle anderen."

    Sello Duiker prangert mit kraftvollem erzählerischem Atem die Brüche in der südafrikanischen Post-Apartheid-Gesellschaft an, zeigt eine junge Generation von Weißen, Farbigen und Schwarzen, die durch ihr Dasein mäandern, bis zur Besinnungslosigkeit kiffen und mit wechselnden Partnern ins Bett gehen. Sie wachsen auf ohne Leitbilder, ohne Ideale.

    "Während der 80er-Jahre und während der Apartheid war es einfach zu sagen, wer wir waren, denn wir waren entweder schwarz oder weiß, farbig oder indisch oder asiatisch.

    Aber jetzt wo die Apartheid vorbei ist, sind wir nur noch Südafrikaner. Aber was bedeutet es, Südafrikaner zu sein? Was bedeutet es, Rasse und Kultur wegzuwischen und nur noch von Menschen zu reden?"

    Insbesondere für die männlichen Protagonisten fehlt ein positives männliches Korrektiv. Als typisch männlich geltende Verhaltensweisen und Fertigkeiten lernen sie eher zufällig von älteren Geschlechtsgenossen.
    Konflikte treten nicht nur in der Konfrontation zwischen Weißen und Schwarzen auf, Neid und Klassenhass gibt es auch unter Schwarzen. Nicht selten nimmt sich der körperlich Überlegene das, was er für sein Recht hält, mit unvorstellbarer Brutalität.

    Duikers Buch ist kein Spaziergang, keine leichte Lektüre für den Liegestuhl. Immer wieder geht es unmissverständlich zur Sache, vor allem was Gewalt und Sex anbelangt.

    Die Tätigkeit und die Erlebnisse seines Protagonisten im Mikrokosmos des Männerbordells, wo sich sowohl Gescheiterte als auch vordergründig Erfolgreiche einfinden, um die Zuwendung, die Befriedigung zu bekommen, die ihnen das tägliche Leben versagt, schildert der Autor in aller gebotenen Härte und bis ins intimste Detail. Aber, merkwürdig, durch seinen nüchternen Stil wirkt hier nichts pornographisch, nicht einmal unappetitlich. Dieser von Duiker mal schonungslos, dann wieder verständnisvoll-zärtlich geschilderte Sex unter Männern, die durchaus nicht notwendig schwul sind, dürfte in solcher Ausführlichkeit selten zu lesen sein.

    "Ich treffe so viele Menschen, und so wenige bleiben. Vielleicht ist es das, was mich auslaugt. Und die schönsten Klamotten dieser Welt können das Gefühl der Wertlosigkeit und die Einsamkeit, die mich umgibt, nicht verdecken."

    Von der ersten Seite an fasziniert Sello Duikers meisterhafter Roman, der einen bis zum überraschend versöhnlichen Schluss nicht mehr loslässt. Wie dieser Autor spritzige Dialoge voller Selbstironie zu Papier bringt, wie er in langen inneren Monologen die Einzelschicksale, die existenziellen Qualen und Lebensängste seiner Protagonisten darstellt, ihren Umgang mit eingebildeten Dämonen, wie er spielerisch zwischen männlicher und weiblicher Akzentsetzung wechselt, und wie nahezu alle Trost suchen in der Musik – das ist stimmig und sucht seinesgleichen.

    Bezaubernd, wie Mmabatho eine französische Restaurantbesitzerin beschreibt, oder Tshepo einen liebesbedürftigen Klienten im Puff. Man möchte jede zweite Passage zitieren, beim Lesen wird einem häufig ganz weh ums Herz.

    So ist das Leben, wie es Duiker sieht, ein steter qualvoller, meist vergeblicher Kampf verletzlicher Individuen, die manchmal auch kleine glückvolle Momente durchleben. Duikers Figuren sind nie wirklich gut und selten ganz böse, alle aber irgendwie hilflos.

    "Wir leben in einer Gesellschaft, die versucht, sich selbst zu heilen. Ich glaube, hier muss Kunst ansetzen, hier können Schriftsteller und Poeten, Musiker und Tänzer dafür sorgen, dass man über alles spricht. Es ist ermutigend zu sehen, dass in Südafrika die Kunstszene noch nie so vibrierend und voller Energie war wie im Moment."

    Vieles würde man den Autor gerne noch fragen. Vor allem danach, wie er als ein so junger Mensch so ausgereift und scharf konturiert Gefühle nachzeichnen, wie er bodenlose Traurigkeit so bewegend darstellen konnte.

    Das ist nicht mehr möglich. "Ich bin einsam und verwirrt. Das Ende ist nah, der Geruch des Todes ist überall", lässt Sello Duiker gegen Ende des Romans seinen Protagonisten sagen. Im Januar 2005 hat er sich, 30-jährig, das Leben genommen. Ihm zu Ehren wurde der Sello-Duiker- Literaturpreis gestiftet.

    Sello Duiker: "Die stille Gewalt der Träume". Aus dem Englischen von Judith Reker. Das Wunderhorn, Heidelberg 2010, 525 Seiten, 26,80 Euro.