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Erinnerungen aus der Vogelperspektive

Die gebürtige Kroatin Marica Bodrozic studierte Ethnologie und Slawistik in Frankfurt am Main. Sie lebt heute in Berlin und schreibt Gedichte und Prosa. In diesem Jahr erschien neben dem Erzählungsband "Der Windsammler" ein Band mit Essays, in dem sie sich mit ihrer Beziehung zur deutschen Sprache, aber auch dem Verhältnis von Sprache und Welt allgemein auseinandersetzt.

Von Cornelia Staudacher | 23.01.2008
    Am liebsten wäre sie Wolkenforscherin geworden, sagte Marica Bodrozic in dem Gespräch, das ich vor zwei Jahren mit ihr führte, als der Roman "Der Spieler der inneren Stunde" herausgekommen war. Es scheint, als sei sie mit ihrem neuen Buch diesem Ziel ein Stück näher gekommen. Auch mit den elf, in diesem Band zusammengestellten Erzählungen führt sie in Erlebnisräume, in denen sich Innenwelt und Außenwelt, das Sicht- und Erlebbare und das Unsichtbare, Reales und Mythisches miteinander verweben und ineinander spiegeln.

    "Ich hatte immer so eine fixe Idee, dass die Wolken Bilder sind, die nicht nur am Himmel sind, nicht nur etwas mit dem Wetter zu tun haben, sondern auch etwas mit mir selbst, dass die äußeren Bilder mit den inneren korrespondieren. Es gibt Echoräume, Resonanzräume, die ein ganz bestimmtes Wolkenhimmelsbild auslösen. Und in diesen Geschichten habe ich das Gefühl gehabt, ich kann mich in das Innere der Figuren hineinbegeben und dort sozusagen die Wolkenlandschaft ausfindig machen."

    Die "Luftperspektive", derer sich Bodrozic bevorzugt bedient, gewährt ihr eigenwillige Fokussierungen. Aus der Entfernung rücken Landschaften und Orte zusammen, treten in Korrespondenz zueinander und lassen ungeahnte Beziehungsgeflechte sichtbar werden. Wieder dockt sie an ihre Kindheit in Dalmatien und die vielen damit verbundenen Erinnerungen an. Jede der elf Geschichten spielt auf einer anderen der Istrischen und Dalmatischen Inseln. Da gibt es den heimlich auf dem Schiff mitfahrenden "Bildinspektor" - so der Titel einer Erzählung -, der wie ein Treuhänder über die Denkwürdigkeiten der vergangenen Welt waltet; die mit einem inneren Ohr ausgestattete Ava im "Vorhof der Ewigkeit", die der Ich-Erzählerin ihre Kindheit wiedergibt oder Oko, den Windsammler, den es aus der realen Welt geworfen, verrückt hat. Die Menschen fürchten sich vor ihm und sperren ihn in eine Anstalt.

    "Inspiriert war ich von der Lebensgeschichte von Joseph Brodsky. Er wurde zu vielen Jahren wegen Parasitentums verurteilt, und die Richterin, die ihn damals verurteilte, sagte, wer hat Ihnen denn das beigebracht, diese Gedichte, wer hat Ihnen gezeigt, wie das geht. Und dann hat er gesagt, das kann man nicht lernen, das kommt von Gott. Und diese innere Stelle, was dieser äußeren Welt nicht angehört, was man nicht beweisen kann, was man in sich trägt, was einen automatisch anders macht als die anderen, das hat mich sehr interessiert, natürlich weil ich das auch selbst kenne aus meiner eigenen Biographie, weil ich aus ganz kleinen Verhältnissen, aus einem kleinen Dorf komme, wo jede Abweichung eine Gefahr für die anderen dargestellt hat."
    Die Geschichte "Die Wiederkehr des Esels" geht auf ein Erlebnis in der Kindheit zurück, als Bodrozic Zeugin wurde, wie der von ihr geliebte Großvater einen Esel tötete, indem er ihn in eine Erdhöhle stieß, eine Erinnerung, die sie nie losgelassen hat, weshalb sie den Großvater in der Gestalt Hapahs noch einmal leben lässt, um ihm gewissermaßen eine zweite Chance zu geben.

    " Dieser Hapah hat die Aufgabe, er muss sich eine eigene Biographie hier auf Erden erschaffen und mit diesen ganzen Gesetzen umgehen, die es auf dieser Erde gibt, er kann nicht mehr zurück an den "Beschlusstisch des Himmels", wie ich das in der Geschichte nenne, denn dort hat er seinen Willen vergessen. Und das, was man braucht, um hier überhaupt zu existieren, ist erst einmal ein Wille."

    Hapah geht also auf den Markt und stellt sich eine Familie zusammen, um, wie es heißt, "mit den biographischen Gesetzen der Menschheit zurechtzukommen."

    "Diese Vorstellung, dass man sich seine Familie zusammenstellt, dass man also einen Vater, eine Mutter braucht, einen Großvater, eine Großmutter, das nimmt er alles auf sich. Und wenn ich darüber nachdenke, wie komme ich eigentlich auf so einen Gedanken, dann muss ich immer wieder feststellen, es hat immer mit einem selbst etwas zu tun. Also ich als Kind habe mir sicher sehr sehnsüchtig Eltern gewünscht und beim Schreiben erlebe ich immer wieder diesen Echoraum zwischen der eigenen Biographie und dem, was die Fiktion ist, was die Literatur einem schenkt, und dass diese Räume nur dann wahrhaftig werden, wenn ich auch mich selbst dabei spüre."

    Selbst den Geschichten, die durch politische Implikationen stärker geerdet zu sein scheinen, haftet etwas Schwebendes an. In "Die Meeresseite der Orange", die den Gulag in Jugoslawien thematisiert, lässt sich der Protagonist, der auf der Suche nach dem Gedächtnis des Vaters ist, von der Natur und den Schönheiten der Insel, auf der sein Vater gefoltert und schließlich ermordet wurde, in eine Traumwelt entführen, ohne die Folterungen und Gräueltaten jener Zeit aus den Augen zu verlieren. In "Die Rache des Dammhirsches" unterwandert Bodrozic die Wirklichkeit, indem sie Ulbricht, ausgehend von einem Jagdbesuch bei Tito, eine Biographie als passionierter Jäger andichtet, dem der erlegte Dammhirsch als eine Art Traumbote des Gewissens nächtens erscheint. Die hier anklingenden heiter satirischen Untertöne sind ein Novum in der Literatur von Marica Bodrozic.

    Das poetische Flair aller dieser Erzählungen aber verdankt sich der Unmittelbarkeit und Intensität, mit der sich Bodrozic auf das Abenteuer Sprache einlässt. Es ist eine Sprache, die sich gleichermaßen durch eine fast kindhafte Unbefangenheit und reflektierte Sensitivität auszeichnet. Die Sprache ist für sie nicht Medium, sondern wird in Verbindung mit den Erinnerungen an den "Kosmos Kindheit" zum lebendigen, synästhetisch fluktuierenden Ereignis aus Gerüchen, Farben und Formen, Geräuschen, Tönen und Bewegungen, aus Gefühlen und Befindlichkeiten. Bodrozic nimmt den Dialog mit der Sprache auf, indem sie sie umschmeichelt und in sie eindringt, sie versinnlicht, wodurch neue Wortschöpfungen und bisher ungehörte gehörte assoziative Sinnzusammenhänge entstehen.

    Ihre Imaginationskraft wie auch die Entscheidung, Schriftstellerin zu werden, führt sie nicht zuletzt auf den Sprachbruch zurück, den sie durch ihren Umzug nach Deutschland im Alter von neun Jahren erlebte.

    "Durch diesen Bruch hat sich die Wirklichkeit ganz anders gestaltet, also zunächst einmal in eine vollkommen sprachlose Welt bin ich hineingekommen, und musste diese Sprache neu lernen, aber auch abgleichen mit meinen inneren Empfindungen, mit meiner Gefühlswelt auch, und so ist das Deutsche für mich eine sehr tief gefühlte Sprache geworden, für mich überhaupt keine Kopf-Sprache, sondern eine körperlich gefühlsmäßig erlebbare, tief in mir verankerte Sprache."

    So kommt es, dass Marica Bodrozic in jeder dieser Geschichten die Magie der Sprache feiert, um sich immer aufs Neue gegen die Kälte, die Monotonie und Erstarrung der verwalteten Welt zu wappnen - im festen Glauben an die Macht des Unbewussten und an ein Universum, das zu erobern neben den Wissenschaftlern den literarischen Wolkenforscherinnen und Windsammlerinnen, wie sie eine ist, obliegt.

    Marica Bodrozic, Der Windsammler. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2007