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Erstübersetzung
Leben im Schwebezustand

Julien Gracqs "Der Versucher" von 1945 ist sein zweiter Roman. Gerade ist er als letztes seiner Werke auf Deutsch erschienen. Ein neuer Gast samt Begleitung bringt die anwesenden Besucher eines vornehmen Strandhotels in der Bretagne gehörig durcheinander – und einem Verhängnis immer näher.

Von Thomas Palzer | 25.06.2014
    Der 2007 verstorbene Autor Schriftsteller Julien Gracq auf einer Aufnahme von 2003. Er steht in dunkler Kleidung an einer Steinmauer, die an das Ufer eines daruntergelegen Flusses grenzt.
    Der 2007 verstorbene Autor Julien Gracq (2003) (picture alliance/dpa/Photopqr/Ouest France)
    Ende Juni findet sich der Literaturwissenschaftler Gérard in einem Hotel am Strand der Bretagne ein, um an einer Studie über Rimbaud zu arbeiten. Mit ihm zusammen bevölkert eine straighte Bande aus Jungen und Schönen das vornehme Feriendomizil: Gregory, Irène, ihr Ehemann Henri, Jacques und Christel, eine junge, sensible Frau, die ihre Unnahbarkeit zelebriert. Man erprobt die Rollen, die man spielen kann, man badet, spielt Golf oder Baccara, man flirtet, veranstaltet Picknicks oder trifft sich abends zum Dinner oder im Casino. Es ist das schwerelose Leben einer jugendlichen Bohème, die sich an den eigenen Launen und Kompliziertheiten nährt - irgendwann um die Mitte des 20. Jahrhunderts herum.
    Gérard hält dieses Leben im Schwebezustand in einem Tagebuch fest, das zu Zweidritteln den Roman ausmacht. Den kurzen zweiten Teil lässt Gracq ein auktoriales Ich erzählen, das namenlos bleibt.
    In seinem Journal fängt Gérard diese schwüle, träge Welt ein, von der das Hotel und der Strand seit der Ankunft der jungen Leute erfüllt ist. Er widmet sich dem vielfältigen und instabilen Beziehungsgeflecht, das zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe irisiert – deutet die Atmosphären, Stimmungen, die hängengebliebenen Gesprächsfetzen und seltsam theatralischen Monologe, die er wortgetreu wiedergibt. Daneben füllt Gérard sein Journal mit poetisch dichten Landschaftsbeschreibungen, wie sie für das spätere Werk von Julien Gracqs typisch werden - und mit detaillierten Traumprotokollen, die in raffinierten und verblüffenden Bildern schwelgen. Eingestreut sind zudem luzide philosophische Betrachtungen zum Thema Selbstmord. Im Lauf der Lektüre beginnt man zu ahnen, dass der Selbstmord vielleicht das geheime Zentrum des Romans darstellt. Immerhin befindet sich die sechsköpfige Truppe in einem Alter, in dem man den Tod gern provokant zu seinem Komplizen erklärt.
    Aber natürlich geht es Gérard in seinem Tagebuch auch um die Liebe. Der Verfasser ist von der blonden Christel fasziniert - wie Jacques, der sich als Konkurrent und Nebenbuhler entpuppt.
    "Doch die Ungezwungenheit endet immer vor der Tür von Christel, und keinem würde es einfallen, an diese Tür zu klopfen, bevor ihr majestätischer Auftritt als junge Prinzessin im Frotteebademantel nicht das Signal dazu gibt. In jeder kleinen menschlichen Gruppe, in jeder vage herausgebildeten Zelle gibt es einen, den man konsultiert und auf den man sich aus dem Augenwinkel bezieht, bevor man die Zügel schießen lässt."
    Das Hotel trägt den passenden Namen Hotel der Wellen– Hôtel des Vagues. Und so, wie Wellen sich verbinden und wieder voneinander lösen, verhält es sich auch mit den Figuren, die Julien Gracq in seinem Roman zu einer Art Versuchsanordnung arrangiert. An dieser Stelle sei angemerkt, dass Der Versucher gewisse atmosphärische Ähnlichkeiten mit Eduard von Keyserlings über dreißig Jahre zuvor erschienener Novelle Wellen besitzt.
    Die jungen Hotelgäste an der bretonischen Küste geben sich dem Sport und dem Müßiggang hin und den diffizilen Überlegungen, die sich an die Frage knüpfen, welche Rolle man in seinem künftigen Leben zu spielen gedenkt.
    Gérard ist ein genauer Beobachter und sensibler Analysator dieses flirrenden, schillernden Netzes aus latenter Erotik, Zweifeln, Eifersucht und Konkurrenzgefühlen.
    Doch eines Tages verändert sich die im Grunde friedliche Ferienstimmung schlagartig: Zum Abendessen erscheinen zu aller Überraschung zwei neue Gäste, die sofort alle Blicke auf sich lenken.
    "Zwei neue Gäste traten ein, von Gregory geführt. Er ein Bild der Kraft und der Gewandtheit zugleich: Der erste Gedanke, der sich bei mir einstellte, war, dass sein Gang Genie besaß. Ich habe nur einen slawischen Athleten im Stadion n einem Cup-Finale in Colombes gesehen, der den Boden mit einer solchen Melodie beehrte (das ganze Stadion machte mit angehaltenem Atem ah!). Sie – es erübrigt sich, das zu erwähnen – sehr schön, schön wie in einem Traum. Der zweite Gedanke, der sich in einer Art Panik bei mir einstellte, war, dass ich das vor Augen hatte, was komplizierter und bestürzender war als die Sphärenharmonie: ein Paar, und sogar ein königliches Paar. Der dritte war ... nein, das war kein Gedanke: das war ein Brodeln, ein Prickeln in den Adern ..."
    Ein Verhängnis nimmt seinen Lauf
    Allan und seine Begleitung Dolorès sind fest entschlossen, in dem Hotel ihren letzten Sommer zu verbringen – und dieser klandestine Entschluss ist es, der die Atmosphäre magnetisch mit einer rätselhaften Gereiztheit auflädt.
    Jacques und Gérard, die beiden Rivalen, die um die Gunst Christels bemüht sind, reagieren alsbald verstimmt auf die Tatsache, dass binnen weniger Tage der Neuankömmling Allan zum Gott der ganzen Truppe aufsteigt – auch in den Augen der Angebeteten.
    Eines Abends trifft Gérard im Casino auf Allan – und wird von dessen unerklärlich maßlosen Gebaren verstört:
    "Ich hörte hinter mir halblaut murmeln: 'Er ist verrückt.' Er spielte so sichtbar, so unübersehbar, so skandalös gegen sich selbst – und zwar in einen Taumel getaucht, in dem die Geschwindigkeit allein seinen Gesten diese spöttische Lässigkeit, diese Langsamkeit verliehen hätte -, dass ich spürte, wie in meiner Nähe Münder vor einer zu wilden Spannung nach Luft rangen und sich anschickten, 'genug, genug' zu rufen, und Hände sich verkrampften, als wollten sie den Tisch umwerfen und diesen Alptraum, diese Atemnot beenden. Mit halb geschlossenen Augen und einem Lächeln, das auf dem Gipfel seiner selbst schwebte, genoss Allan diese verrückten Augen, diese blutenden Blicke, diese gegeneinander gepressten Hände und quälte diesen Saal, der an seinen Fingern hing, lustvoll."
    Nachdem Christel den Ferienfreund Gérard in einem Brief über ihre komplizierte und unglückliche Liebe zu Allan unterrichtet und um Hilfe bittet, verabredet sich dieses eines frühen Morgens am Strand mit dem Beau ténébreux, wie der Roman im Original heißt, mit dem schönen Finsterling. Es ist ein theatralisch inszeniertes Gespräch, das sich über zwanzig Seiten hinzieht und bei dem die unerklärliche Ambivalenz der Figur zutage tritt. Danach endet Gérards Tagebuch und der auktoriale Erzähler ergreift das Wort.
    Auf den folgenden 50 Seiten zeigt sich, was durch Gérards Tagebuch schon zu erahnen war: Dass Allan ein homme fatal ist, jemand, der willentlich den eigenen Untergang inszeniert. Bei einem Kostümball, den das Hotel veranstaltet, treibt alles auf das von den Gästen längst erahnte Verhängnis zu.
    Julien Gracq führt in seiner romanhaften und reichhaltig mit intertextuellen Verweisen garnierten Versuchsanordnung Leidenschaft und Vernunft gegeneinander ins Feld. Eine Lösung für diesen existentiellen Konflikt scheint für den Autor, wenn man das so sagen kann, nur im Selbstmord zu liegen - was der Surrealismus ja 1924 noch als Frage formuliert hatte: "Ist der Selbstmord eine Lösung?" Der Surrealismus war es auch, mit dem der Schriftsteller Julien Gracq zumindest zu Beginn seiner Karriere zahlreiche Kontakte unterhielt und für den er Sympathien hegte.
    Julien Gracq: "Der Versucher". Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig. Graz 2014: Literaturverlag Droschl, 231 Seiten, geboren, Euro 23