Donnerstag, 28. März 2024

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"Es gibt in dieser Gesellschaft ungeheuer viele Denkverbote"

Gesine Lötzsch habe in ihrem umstrittenen Beitrag zur Rosa-Luxemburg-Konferenz nicht den Kommunismus als Ziel gepriesen, sagt Jürgen Reents, Chefredakteur der Tageszeitung "Neues Deutschland". Dennoch müssten stets auch die Verbrechen des Kommunismus thematisiert werden.

Jürgen Reents im Gespräch mit Friedbert Meurer | 06.01.2011
    Friedbert Meurer: Frank Capellan aus Berlin. Und dort begrüße ich Jürgen Reents, er ist der Chefredakteur der Tageszeitung "Neues Deutschland". Guten Tag, Herr Reents!

    Jürgen Reents: Guten Tag, Herr Meurer!

    Meurer: Das berühmte Manifest von Karl Marx beginnt bekanntermaßen mit dem Satz: "Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus." Warum hat Gesine Lötzsch versucht, dieses Gespenst wiederzubeleben?

    Reents: Also, erlauben Sie, dass ich zunächst einfach zu den Reaktionen darauf sage. Warum Frau Lötzsch diesen Beitrag so geschrieben, das wäre am besten mit ihr selbst zu diskutieren. Aber gespenstisch ist doch momentan vor allen Dingen die Debatte, die es um diesen Artikel gibt. Das ist ein Zeichen von Armseligkeit, ein Zeichen von Verkommenheit der politischen Debatte, wie es sie hier in Deutschland gibt.

    Meurer: Was ist denn daran armselig, wenn man an die Verbrechen des Kommunismus ...

    Reents: Bitte?

    Meurer: Was ist denn daran armselig, wenn man an die Verbrechen des Kommunismus erinnert und sie assoziiert?

    Reents: Nein, daran ist nichts armselig. Ich finde, dass eine seriöse Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kommunistischer und sozialistischer Parteien dieses selbstverständlich thematisieren muss. Aber das ist nicht der Punkt, um den es momentan geht. Eben in dem Beitrag wurde die Formulierung gebraucht, wenn man auf einem Podium sitzt, mit Kommunisten, dann muss man auch sagen, dass es ganz viele Verbrechen gegeben hat. Ich sage Ihnen, ich würde es sagen und ich würde darüber diskutieren. Nur zu sagen, man muss dies tun, dann kann ich auch mal die Gegenfrage stellen: Muss ich, wenn ich auf einem Podium mit Christen sitze, über die Verbrechen des Christentums, über die Hexenverfolgung, über die Verfolgung von Ketzern, über die Zusammenarbeit des Vatikan mit dem Nazifaschismus diskutieren? Ich muss es nicht.

    Meurer: Wenn man über Muslime redet, redet man vielleicht auch über Kreuzzüge des Christentums.

    Reents: Ja, das wird doch im Allgemeinen nicht getan. Das Interessante ist doch, dass hier etwas verlangt wird, was überhaupt nicht den Intentionen entspricht und auch nicht dem Wortlaut entspricht, was Gesine Lötzsch dort geäußert hat. Sie hat im Grunde genommen überhaupt keinen Beitrag über den Kommunismus dort gehalten, sondern sie hat genau das getan, was Ihr Moderator eingangs gesagt hat, sie hat sich für den demokratischen Sozialismus ausgesprochen. Die Themen sind …

    Meurer: Sie hat doch gesagt, am Ende des Weges ist der Kommunismus, so kann man das doch interpretieren.

    Reents: Nein, das hat sie nicht gesagt, da müssen Sie genau zitieren. Es ist ein Thema dort gewesen: Gibt es Wege zum Kommunismus? Und dazu hat sie sich geäußert, dazu hat sie zurückgegriffen auf die Auseinandersetzung, die es zwischen Rosa Luxemburg und Lenin gegeben hat. Sie hat hervorgehoben, dass für Rosa Luxemburg, die sie als Bezugsperson für die Linke bezeichnet hat, immer der Zusammenhang von Gemeinschaftlichkeit und individueller Freiheit gestanden hat.

    Meurer: Ich will mal zitieren, Herr Reents, Entschuldigung: "Auf jeden Fall wird es nicht den einen Weg geben" - sie sagt vorher Wege zum Kommunismus -, "sondern sehr viele unterschiedliche Wege, die zum Ziel führen. Alle sind sich einig, dass es ein sehr langer und steiniger wird." Das ist doch eindeutig, sie setzt das Ziel des Kommunismus, oder?

    Reents: Da greifen Sie jetzt ein Zitat raus. Wenn Sie den Text insgesamt lesen, dann werden Sie feststellen, dass es im Grunde genommen ein Text ist, der von jedem linken Sozialdemokraten oder von jedem demokratischen Sozialisten ansonsten kommen könnte. Da ist über öffentlichen Beschäftigungssektor die Rede und Ähnlichem mehr. Dieses eine Zitat, was Sie rausgreifen, ich sage Ihnen, wie ich es verstehe: Es wirft die Frage auf, ob man überhaupt noch über Vision diskutieren darf, ob es erlaubt ist und ob wir es wollen. Und es gibt in dieser Gesellschaft ungeheuer viele Denkverbote. Die Sehnsucht nach einer Gesellschaft, die eben nicht diese Spaltung hat, wie wir sie momentan haben in der Frage von Reichtumsverteilung und Armutsverteilung, wo ein Drittel der Gesellschaft 80 Prozent des Vermögens besitzen und ein Drittel faktisch nichts besitzen in dieser Gesellschaft, das muss legitim sein. Ich wundere mich, dass eine solche Gelassenheit dieser Debatte in Deutschland nicht möglich ist.

    Meurer: Benutzen Sie lieber den Ausdruck ...

    Reents: Bitte?

    Meurer: Wäre der Ausdruck Sozialismus vielleicht einfach besser als Kommunismus?

    Reents: Da kann man begrifflich drüber streiten. Die Gesellschaften, die es gegeben hat in der DDR und in der Sowjetunion und in den anderen osteuropäischen Staaten, die haben sich ja als sozialistische Gesellschaften bezeichnet, gar nicht als kommunistische. Das heißt, man kann diese gleiche Debatte über den Begriff des Sozialismus führen. Es ist völlig richtig: Im Namen des Kommunismus - und nicht nur im Namen, sondern von kommunistischen Parteien und von Kommunisten -, im Namen des Sozialismus, von sozialistischen Parteien und von Sozialisten wurden Verbrechen begangen. Daran gibt es überhaupt nichts zu deuteln, daran hat auch Gesine Lötzsch nie einen Zweifel gelassen. Ich meine, die PDS als eine der Vorläuferorganisationen der Linken hat sich so intensiv mit ihrer eigenen Geschichte und so kritisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandergesetzt, dass es absolut lachhaft ist, was Herr Dobrindt und andere CSU-Generalsekretäre oder der CDU-Generalsekretär Gröhe dazu äußern.

    Meurer: Jürgen Reents, der Chefredakteur des "Neuen Deutschlands" zum Wirbel um die Äußerungen der Linken-Chefin Gesine Lötzsch. Danke, Herr Reents, und auf Wiederhören nach Berlin!

    Reents: Wiederhören!

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