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"Es gibt Licht, es gibt Schatten in Afghanistan"

Außenminister Guido Westerwelle hat davor gewarnt, die Lage in Afghanistan einseitig zu betrachten: Die Situation sei regional sehr unterschiedlich. Es habe zwar eine besorgniserregende Entwicklung gegeben, aber man könne auch Fortschritte verzeichnen.

09.07.2010
    Christoph Heinemann: Am 20. Juli findet in Kabul die nächste internationale Afghanistan-Konferenz statt. Deutschland kann Vollzug melden. Die zu Jahresanfang beschlossene Aufstockung der deutschen Polizeikräfte von 170 auf rund 250 ist abgeschlossen. Ihre Aufgabe: 5.000 afghanische Polizisten pro Jahr ausbilden. In vier Jahren, also 2014, sollen etwa 134.000 afghanische Polizisten zur Verfügung stehen. So weit die Planung.
    Der Bundesaußenminister wird heute im Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zur Lage in Afghanistan abgeben. Wir haben vor wenigen Minuten mit Guido Westerwelle dazu das folgende Interview aufgezeichnet. Erste Frage: Der Juni war mit 100 gefallenen Soldaten der tödlichste Monat seit Kriegsbeginn 2001. Was läuft schief in Afghanistan?

    Guido Westerwelle: Zunächst einmal haben Sie recht, dass wir auch, was die Sicherheitslage angeht, Besorgnis erregende Entwicklungen in diesen letzten Monaten erlebt haben. Andererseits aber muss man auch sehen, dass es Fortschritte gibt. Seit der Londoner Konferenz zu Afghanistan gibt es auch Fortschritte, was die Stabilisierung im eigenen Land angeht. Das heißt, die Lage in Afghanistan ist regional sehr unterschiedlich. Wir sind in einigen Bereichen, auch in einigen Distrikten sehr gut vorangekommen mit dem Aufbau der zivilen Strukturen, mit dem Aufbau auch neuer Sicherheitsstrukturen, sodass wir dann auch unserem Ziel weiter nachgehen können, die Sicherheitsverantwortung noch in dieser Legislaturperiode, wenn die Voraussetzungen stimmen, auch der afghanischen Regierung vollständig zu übertragen.

    Heinemann: Gleichzeitig stockt die US-Offensive im Süden. Ist die NATO militärisch nicht längst gescheitert?

    Westerwelle: Nein, denn man muss sehen, dass ohnehin weder alleine militärisch, noch alleine zivil der Einsatz in Afghanistan erfolgreich sein kann. Wir brauchen beides und wir brauchen auch noch etwas Drittes dazu, nämlich einen klaren politischen Ansatz, und deswegen haben wir ja auch auf der Londoner Afghanistan-Strategie einen politischen vierten Weg beschlossen, nämlich wie man auch durch gute Regierungsführung, durch Aussöhnung und Reintegration, durch die wirtschaftliche und soziale Entwicklung die Übergabe der Sicherheitsverantwortung erreichen kann. Die internationale Gemeinschaft arbeitet sehr eng zusammen. Es gibt Licht, es gibt Schatten in Afghanistan, aber die Fortschritte dürfen auch nicht ignoriert werden.

    Heinemann: Militärisch aber überwiegend Schatten!

    Westerwelle: Nein, das ist nicht richtig. Es gibt auch in einigen Bereichen durchaus Fortschritte. Wir müssen auch sehen, dass wir in einigen Distrikten sehr wohl auch bei der Übergabe der Verantwortung ein gutes Stück auf dem Weg vorangekommen sind.

    Heinemann: Herr Westerwelle, bis 2014 – Sie haben es angesprochen – soll die afghanische Regierung die Sicherheitsverantwortung übernehmen. Wie soll innerhalb von vier Jahren bewerkstelligt werden, was seit neun Jahren nicht klappt?

    Westerwelle: Das ist ja der neue Ansatz auch der Kabuler Konferenz, den wir jetzt vor uns haben. Es wäre zum ersten Mal, dass eine Afghanistan-Konferenz in Afghanistan selbst stattfindet. Das alleine ist ja auch eine sehr wichtige Wegmarke. Die afghanische Regierung hat sich ja selbst in London sehr ambitionierte Ziele gesetzt und wir müssen in Kabul natürlich jetzt die Frage stellen, was ist bisher konkret im Hinblick auf diese Selbstverpflichtungen erreicht worden. Umgekehrt hat die internationale Staatengemeinschaft ja auch die zivilen, vor allen Dingen die zivilen Mittel erheblich vergrößert, um den Aufbau in Afghanistan voranzubringen, und wir haben einen neuen Ansatz gewagt und begonnen, der ja auch von der afghanischen Regierung verantwortet wird und vorangetrieben wird, nämlich die Aussöhnung und Reintegration in Afghanistan selbst, denn Frieden kann in Afghanistan natürlich nur durch die afghanische Regierung selbst geschlossen werden. Andererseits müssen wir uns natürlich auch von der Vorstellung lösen, dass wir in Afghanistan gewissermaßen europäische Verhältnisse schaffen könnten. Wir müssen sicherlich auf gute Regierungsführung setzen, darauf achten, dass auch die Fortschritte bei Menschenrechten, bei Rechtsstaatlichkeit nicht verloren gehen. Andererseits aber müssen wir uns natürlich mit der nüchternen Erkenntnis abfinden, dass wir in Afghanistan nicht europäische Verhältnisse schaffen, sondern ausreichend gute Verhältnisse, die auch uns selber in Europa eine richtige Sicherheit geben, denn das ist ja auch einer der zentralen Gründe, warum wir in Afghanistan sind, unsere eigene Sicherheit entsprechend in Europa zu schützen und zu vergrößern.

    Heinemann: Um mit Ernst Bloch zu sprechen, der gestern vor 125 Jahren geboren wurde: Sie sind ein Anhänger des Prinzips Hoffnung?

    Westerwelle: Ja. Ich glaube, das muss jeder haben. Andererseits gibt es ja auch gute Gründe für Hoffnung, weil natürlich hier bei uns gesehen wird, wenn es schreckliche Anschläge gegeben hat, wenn es tragische Todesfälle gegeben hat. Das ist auch verständlich und wir sind ja alle auch in Trauer, wenn es so viele Gefallene gibt. Umgekehrt müssen wir aber auch sehen, dass in den Bereichen, in den Regionen, wo Straßen gebaut worden sind, wo Schulen gebaut worden sind, wo Mädchen wieder zur Schule gehen können, wo medizinische Versorgung stimmt, wo es auch wirtschaftliche Perspektiven gibt, gleichzeitig auch die Sicherheit gewachsen ist, und deswegen ist es nicht zulässig, ein einheitliches Bild von Afghanistan zu zeichnen, sondern es ist sehr regional unterschiedlich und wir wollen ja auch im nächsten Jahr dann beginnen, Schritt für Schritt auch in den ersten Distrikten vor Ort die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände zu übergeben, denn unser Ziel ist es ja nicht, auf ewig in Afghanistan zu bleiben, unser Ziel ist es, das Land zu stabilisieren, unsere eigene Sicherheit in Europa zu schützen, indem wir dafür sorgen, dass Terroristen nicht dort wieder das Sagen haben, aber dann natürlich auch eine Abzugsperspektive uns zu erarbeiten, und wenn die Voraussetzungen stimmen, dann ist es das Ziel der Bundesregierung, dass auch in dieser Legislaturperiode noch eine Abzugsperspektive erarbeitet wird, das heißt, dass wir schrittweise dann auch beginnen können, unser militärisches Kontingent zurückzuführen.

    Heinemann: Herr Westerwelle, Sie haben die Ziele beschrieben. Geht es der NATO in Afghanistan auch um die Sicherung von Rohstoffen?

    Westerwelle: Nein! Das ist ja etwas, was auch schon zum Beginn des Afghanistan-Einsatzes überhaupt gar keine Rolle gespielt hat. Man darf ja nicht vergessen: Der Einsatz in Afghanistan ist ja auch von deutscher Seite unter ganz anderen politischen Verhältnissen begonnen worden. Es gab bisher einen großen überparteilichen Konsens, jedenfalls der drei größten, im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien, dass wir einerseits in Afghanistan uns engagieren, um den Menschen zu helfen, die ja doch sehr furchtbar von Taliban-Terroristen unterdrückt worden sind, und andererseits geht es natürlich auch erkennbar darum, dass wir nicht zulassen dürfen, dass Afghanistan das Rückzugsgebiet des gesamten Weltterrorismus ist. Ja, es ist ein sehr schwieriger Einsatz, ja, es gibt auch Rückschläge, aber es ist auch richtig, dass dieser Einsatz notwendig ist, wenn wir nicht unüberschaubare auch Risiken für unsere eigene Sicherheit in Europa und in Deutschland zulassen wollen. Wir wollen nicht vergessen, dass es ja nicht nur Anschläge in Washington und New York gegeben hat; es hat auch Anschläge in Europa gegeben und auch in Deutschland sind wir mit etwas Glück und guter Ermittlung unserer Sicherheitskräfte an Anschlägen haarscharf vorbeigekommen.

    Heinemann: Können Sie sich vorstellen, dass zum Beispiel die enormen Lithium-Vorkommen in Afghanistan – das ist der Rohstoff für Handys – keinerlei Begehrlichkeiten wecken?

    Westerwelle: Ja wenn das Afghanistan auch wirtschaftliche Perspektiven eröffnet, dann ist das doch eine gute Sache. Aber den Eindruck zu erwecken, wir seien in Afghanistan dort, weil es dort Rohstoffe gäbe, ist schon deshalb falsch, weil zum Zeitpunkt, als dieser Einsatz begonnen worden ist, als Antwort auf die Terroranschläge durch auch Taliban-Unterstützung, war ja überhaupt noch gar nichts von diesen Nachrichten bekannt.

    Heinemann: War der frühere Bundespräsident Horst Köhler vielleicht einfach nur ehrlicher, als er sagte, man müsse darüber nachdenken, die Bundeswehr auch zum Schutz von wirtschaftlichen Interessen einzusetzen?

    Westerwelle: Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat das ja ausdrücklich nicht auf Afghanistan bezogen, und es ist auch nicht in Ordnung, dass man ihm das unterstellt. Er hat ja die Einsätze der Bundeswehr insgesamt angesprochen. Und wenn wir zum Beispiel an den Einsatz der Bundeswehr denken zur Bekämpfung von Piraterie, dann geht es natürlich auch um wirtschaftliche Interessen, denn dass wir freie See-Handelswege brauchen, das ist für uns als Exportnation genauso wichtig wie für die Empfängerländer. Schließlich kommen jetzt auch durch den Schutz unserer Bundeswehr Hilfslieferungen trotz der Piraterie in den Häfen von bedürftigen Ländern an, und das ist auch ein großer humanitärer Erfolg.

    Heinemann: Im Deutschlandfunk sprechen wir mit dem Bundesaußenminister Guido Westerwelle und fragen nun den Vizekanzler und FDP-Vorsitzenden: Herr Westerwelle, Ihr Parteifreund Jörg Bode, Niedersachsens stellvertretender Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, hat die Kanzlerin kritisiert, gesagt, er wünsche sich, dass Frau Merkel inhaltlich deutlicher Farbe bekenne. Ist diese Ermahnung berechtigt?

    Westerwelle: Ich glaube, dass die Koalition auch nach in der Tat schwierigen Monaten jetzt sich auf einen sehr engagierten, klaren, gemeinsamen Weg auch verständigt hat. Wir sind dabei, die Probleme zu lösen. Die Zusammenarbeit in der Koalition ist sehr viel besser geworden. Damit meine ich nicht nur die gemeinsame Wahl eines neuen Staatsoberhauptes, sondern ich meine damit natürlich auch, dass wir eines der großen Probleme nach dem anderen abschichten und auch lösen. Ich denke zum Beispiel an ein Sparpaket, das zum ersten Mal ein wirkliches Sparpaket ist, weil wirklich Ausgaben gekürzt werden und nicht einfach nur Einnahmen verbessert werden, sprich Steuererhöhungen. Oder ich denke an eine große Aufgabe bei der Gesundheitspolitik. Da sind die Weichen gestellt worden, und das begrüße ich nachdrücklich.

    Heinemann: Die Wochenzeitung "Die Zeit" buchstabiert den Fehlstart der schwarz-gelben Koalition wie folgt: "Hotelsteuer, mitfliegende Freunde, spätrömische Dekadenz, Gesundheitsprämie, Wildsau, Gurkentruppe, Abweichler, mutwillige Rücktritte." Schlummern weitere Stichworte im Textbuch des bevorstehenden Sommertheaters?

    Westerwelle: Das ist schon, glaube ich, sehr einseitig, denn umgekehrt muss man erkennen: wir haben eine Wirtschaftslage, die ist hervorragend. Wir haben eine Spitzenlage auf dem Arbeitsmarkt, worum uns alle anderen Länder nicht nur in Europa wirklich beneiden, und das hat auch etwas mit Politik zu tun, zum Beispiel mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das die Familien entlastet hat zu Beginn des Jahres, auch den Mittelstand gestärkt hat, die Familienunternehmen gestärkt hat. Also wenn man natürlich immer nur alles Negative sehen will – und zugegeben, da sind auch ein paar sehr unerfreuliche Geräusche gewesen -, dann kommt man zu diesem Urteil. Wenn man aber etwas unvoreingenommen an die Arbeit der Bundesregierung herangeht, dann kann man die Erfolge auch nicht ignorieren.

    Heinemann: Der Bundesaußenminister und FDP-Bundesvorsitzende, Guido Westerwelle, in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Westerwelle: Ich danke Ihnen. Auf Wiederhören!