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"Es gilt das geschriebene Wort"

Jüngst beschloss der Bundestag, dass die Volksvertreter sich bei bestimmten Themen nur noch schriftlich zu äußern brauchen. "Reden zu Protokoll geben" heißt der neue Paragraf in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Was bleibt denn dann für zuhörwillige Bürger?

Von Dorothea Jung | 10.09.2009
    Erinnern Sie sich an diese beiden Bundestagsabgeordneten der Bonner Republik?

    "Wehner: "Sie sind doch so klug, dass Sie sich auf die Verkehrsdebatten beschränken sollten, nicht?"

    Strauß: "Sie werden allmählich kindisch, Herr Wehner, aber das kann man nicht verhindern!""

    Die Wortgefechte zwischen dem Sozialdemokraten Herbert Wehner und CSU-Chef Franz Josef Strauß sind Legende. Hätte einer dieser beiden machtbewussten Dickschädel freiwillig auf sein Recht verzichtet, im Parlament seine Meinung zu äußern? "Schwer vorstellbar", meint Burkhard Hirsch.

    "Die Debatten waren freier, sie waren weniger gegängelt; es wurden weniger Reden vorgelesen, als offen diskutiert, die Redezeit war sehr viel liberaler als heute üblich geworden ist - und die Vorstellung, eine Rede zu Protokoll zu geben, wäre wirklich als absurd belacht worden."

    Burkhard Hirsch blickt auf mehr als 20 Jahre Parlamentserfahrung zurück. Bis 1998 saß er für die Freien Demokraten im Deutschen Bundestag. Der promovierte Jurist feiert im nächsten Jahr seinen 80. Geburtstag. Mit der neuen Geschäftsordnung habe sich das Parlament ein Stück weit selbst entmachtet, kritisiert Burkhard Hirsch.

    "Es ist eine Regelung, die es in keinem anderen demokratischen Parlament gibt, was dafür spricht, dass sie nicht notwendig ist; und es ist ein Sieg der Technokraten, die durchaus bereit sind, auf die Kraft des Wortes zu verzichten."

    Die Technokraten - in den Augen des Alt-Liberalen sind das die geschäftsführenden Vorstände der Bundestagsfraktionen. Die legen Tagesordnung und Redezeiten fest, so Burkhard Hirsch. Günter Krings widerspricht. Der Christdemokrat ist Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der CDU-CSU-Bundestagsfraktion und versichert, die Tagesordnung werde in Absprache mit der Fraktion und den Arbeitsgruppen festgelegt. Das eigentliche Problem sieht der Jurist in dem enormen Arbeitspensum, das der Bundestag zu bewältigen hat. Günter Krings ist dafür, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen und pragmatisch vorzugehen.

    "Also, die siebte Novellierung des Patentrechtes an zwei, drei Paragrafen muss man nicht zwingend im Plenum debattieren. Und wenn, glaube ich, mehr Vernunft auch bei allen Beteiligten einkehrt, wird man auch die Parlamentsdebatten wieder spannender gestalten können; dann werden nämlich zu den guten Zeiten zwischen 9 und 18 Uhr eben die hochpolitischen Themen debattiert, und die eher technischen Fragen kann man dann zu Protokoll geben."

    Handeln denn die Reden, die nur noch zu Protokoll gegeben werden, tatsächlich nur von Themen mit geringer Bedeutung? Der Münchener Journalist Heribert Prantl von der "Süddeutschen Zeitung" hat einen anderen Eindruck gewonnen.

    "Wenn ich an die letzte große Sitzung des Bundestages denke, 40 Tagesordnungspunkte in wenigen Minuten abgehandelt: Zwangsheirat, Opferschutz, Stalking, Genitalverstümmelung, Genmais - eine unendliche Fülle von Nicht-Nebenbei-Gesetzen regelrecht auf die Schnelle abgehakt! Das halte ich ganz persönlich für gefährlich, so stelle ich mir unsere Demokratie nicht vor."

    Die Funktion des Parlamentes habe sich eben verändert, urteilt Wolfgang Zeh. Der Verwaltungsjurist war viele Jahre lang Direktor des Deutschen Bundestages. Nach seiner Auffassung geht es heute nicht mehr darum, im Plenum ein Thema kontrovers zu diskutieren, um dann am Ende eine Entscheidung zu fällen. In einem modernen Arbeitsparlament, sagt Wolfgang Zeh, finde der Meinungsstreit über Gesetze im Vorfeld der Debatte statt. In den Fraktionssitzungen und den Ausschüssen.

    "Diesen Prozess jetzt in einer Parlamentsdebatte von einer Stunde noch einmal als leidenschaftliches Für und Wider vorzuspielen, wäre wirklich Theater. Und deshalb kommt es zu den Debattenformen, zu den Reden, also als Erklärungen gewissermaßen. Was in der Realität 2000 Stunden gekostet hat an Vorbereitung, das wird jetzt zusammengefasst, damit man überhaupt eine Vorstellung davon hat, was die politischen Kräfte bewegt hat."

    "Selbst die Darstellung von Meinungsstreit ist eine wichtige Funktion des Parlamentes", meint die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin, die in diesem Jahr aus dem Bundestag ausscheidet. Die Sozialdemokratin ist sicher: Eine machtvolle Opposition hätte sich die neue Geschäftsordnung nicht gefallen lassen.

    "Eine große Oppositionspartei drängt dann auch darauf, das so zu machen, dass wirklich eine streitbare Auseinandersetzung wieder herauskommt. Dann brauchen wir immer noch die Journalisten, denn ohne eine mediale Vermittlung sitzt ein Politiker oder eine Politikerin völlig auf dem Trockenen."

    Im Bundestag wird mit der Streitlust gespart, in der Talkshow wird sie großzügig verschwendet. Eine Entwicklung, die Herta Däubler-Gmelin am Ende ihrer politischen Karriere nachdenklich stimmt. Aber dafür, resümiert die Sozialdemokratin, sind nicht allein die Abgeordneten verantwortlich.

    "Wer heute nicht Bundeskanzler ist, bestenfalls noch zum engeren Kreis der Vertrauten unter den Ministern gehört, findet medial kaum statt. Mit dem Ergebnis, dass die anderen, und dazu zähle ich insbesondere auch das Parlament, eigentlich bei den Menschen nicht ankommen, das alles ist mindestens so demokratieschädlich wie die Entmachtung des Parlamentes, über die wir gerade reden."