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Es hat sich ausgekippt

Technik. - Eigentlich hatten die Deutsche Bahn und der Hersteller Siemens alles getan, um ein Fiasko bei der Entwicklung des ersten Diesel-ICE, der sich auch noch in die Kurven legen kann, zu verhindern. So wollten die Ingenieure den Zug vor dem offiziellen Start auf der Strecke Dresden-Nürnberg zum Fahrplanwechsel 2001 ein Jahr lang testen. Doch daraus wurde nichts. Die Folge: Die Pannen häuften sich. Jetzt hat sich die Bahn entschieden: Sie will den Zug mit dem kommenden Fahrplanwechsel überhaupt nicht mehr einsetzten. Damit ist der ICE 605 zum größten Beschaffungsdesaster der deutschen Bahnen seit 1945 geworden.

Sönke Gäthke | 04.11.2003
    Ja, es gab in der Tat Verzögerungen, und zwar waren mehrere Gründe dafür entscheidend, zum einen war die Strecke noch nicht fertig, aber es gab auch durchaus auf unserer Seite, auf der Industrieseite Verzögerungen beim Zulassungsprozess und beim Bau der Züge, so dass im Jahre 2000 die Züge nicht eingesetzt werden konnten, sondern erst zum Fahrplan 2001.

    Erklärt Dietrich Möller, Entwickler bei der Firma Siemens. Ein Problem der neuen Züge war die Steuerung der Neigetechnik. Denn anders als ein Motorrad legt sich ein Zug nicht selbsttätig in die Kurve, das übernehmen spezielle Antriebe in den Fahrgestellen. Sie heben die Wagen auf der einen Seite etwas an und senken ihn auf der anderen etwas ab. Nur - wie auf der Strasse ist auch auf der Schiene jede Kurve anders, das heißt, der Zug muss sich jeder Kurve neu anpassen. Das kann ein Lokführer nicht von Hand steuern und überwachen, daher übernimmt das ein spezielles Computerprogramm.

    Kurz vor Beginn der Testfahrten gaben die entwickelnden Ingenieure den Auftrag jedoch als zu komplex zurück. Gleichzeitig kam die Bahn mit dem notwendigen und versprochenen Umbau der Strecke nicht recht voran. So ließ sich der Testbetrieb, wie er ursprünglich vorgesehen war, nicht mehr durchführen. Trotzdem entschloss sich die DB, den regulären Start des Zuges nicht zu verschieben. Die Folge: Verspätungen und verärgerte Fahrgäste. Die Klimaanlagen fielen aus, die Kupplungen froren im Winter ein, und die neu entwickelte Neige-Steuerung lief anfangs auch nicht problemlos, sagt Dietrich Möller.

    Es ist allerdings so gewesen, dass die sehr sensibel ist, und wir auf der Strecke von Nürnberg nach Dresden festgestellt haben, dass diese Überwachung zu sensibel eingestellt ist, so dass hier doch häufiger mal der Zug anhielt, aber gar nichts kaputt war, sondern einfach die Überwachung zu scharf eingestellt war.

    Fast ein Jahr -ungefähr so lange, wie der Testbetrieb geplant war - dauerte es, bis der Diesel-ICE endlich problemlos fuhr. Dann aber - im Dezember vergangen Jahres - entgleiste ein Zug. Der Grund: ein Achsbruch. Für Eisenbahner so etwas wie ein Fast-GAU, eine Achse darf nicht brechen. Für das Eisenbahn-Bundesamt - die Prüfbehörde der Schiene, ein Alarmzeichen. Sie verbot umgehend den Neigezugbetrieb, um die Achsen zu schonen. Der teure Zug musste jetzt also langsam zwischen Dresden und Nürnberg bummeln. Aber es sollte noch schlimmer kommen: Bei den Untersuchungen der Achse stellte sich heraus, dass sie offenbar zu schwach konstruiert wurde. Den Prüfern bereitete Sorgen, so Norbert Schmitz vom Eisenbahnbundesamt in Bonn,

    dass wir hier einen hochfesten Werkstoff haben, der eine Besonderheit aufzeigt bezüglich Sprödverhalten, und was Rissfortschritt angeht, wenn also ein kleiner Anriss durch irgendwelcher mechanischer Schaden hier entstanden ist, dass der dann einen besonders schnellen Rissfortschritt aufzeigt.

    Die Prüfer legten sofort alle Diesel-ICE still. Dabei hatte sich die Firma Siemens bei der Konstruktion der Achse genau an die gültigen Normen gehalten. Weil bei deren Formeln bestimmte Werte offenbar nicht stimmen, nahmen die Eisenbahnprüfer die Gelegenheit wahr, noch einmal alle Kräfte zu messen, die bei Neigetechnikbetrieb auftreten. Schmitz:

    Dass ist eine Grundsatzthematik, dass man sich noch einmal damit auseinander setzt, mit der Fragestellung. Und darum hat man hier noch einmal Messungen vorgenommen um zu sehen, welche Kräfte sind denn wirklich real. Und das ist in diesem Zusammenhang mit der Baureihe 605 noch mal gemacht worden.

    Die Firma Siemens hat inzwischen die Achsen etwas verändert, so Dietrich Möller.

    Wir haben zwei Dinge geändert, wir haben die Geometrie der Welle entsprechend angepasst..., und das zweite ist, wir haben die Wellen an den entscheidenden Stellen mit Molybdän beschichtet.

    Das soll verhindern, dass sich Rost auf der Achse bildet und die Festigkeit beeinträchtigt. Das Eisenbahnbundesamt prüft derzeit, ob die so umkonstruierten Achsen jetzt halten. Doch selbst wenn sich der Diesel-ICE nach diesen Veränderungen im Dezember wieder in die Kurven legen könnte, er wird es nicht tun. Die Bahn hat sich entschlossen, den Zug vom kommenden Fahrplan an nicht mehr einzusetzen. Auf der Strecke Nürnberg-Dresden sollen stattdessen Regionaltriebwagen der Baureihe 612 zum Einsatz kommen.