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"Es war eine Sturzgeburt"

Der frühere DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz hält den vor 20 Jahren unterzeichneten Vertrag zur deutschen Einheit für die zweitbeste Lösung zur Wiedervereinigung. Das Dokument habe lediglich das Grundgesetz der Bundesrepublik erweitert.

Werner Schulz im Gespräch mit Friedbert Meurer | 31.08.2010
    Friedbert Meurer: Am 3. Oktober wird das vereinigte Deutschland 20 Jahre alt. Einen kleinen Festakt gibt es aber heute schon. Der Anlass: Heute vor 20 Jahren wurde der Einigungsvertrag unterzeichnet. Ein ziemlich dickes Gesetzespaket, das man damals vor 20 Jahren ausgehandelt hatte, und nach Monaten Verhandlungen gelang der Durchbruch in der Nacht vor 20 Jahren in Bonn. Unterzeichnet wurde das Ganze dann am Mittag des 31. August 1990 in Ostberlin.

    Der heutige Europaabgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen, Werner Schulz, saß damals für die Bürgerrechtler vom Neuen Forum in der Volkskammer. Eine Woche vorher hatte dieses DDR-Parlament dem Beitritt ihres untergehenden Staates zur Bundesrepublik zugestimmt. Guten Morgen, Herr Schulz!

    Werner Schulz: Schönen guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Wie viel bedeuten Ihnen persönlich heute noch die Ereignisse von damals?

    Schulz: Das sind historische Ereignisse, die vergisst man sein Leben nicht und die haben die letzten 20 Jahre maßgebend mitgeprägt. Ich habe mich sehr gefreut auf die deutsche Einheit. Das ist ein Riss, der durch meine Familie ging. Mein Vater stammt aus Nordbaden und ich habe lange Jahre diese Trennung dieser Teile Deutschlands sehr, sehr schmerzhaft in der Familie erlebt. Insofern war das für mich eine sehr ambivalente Sache. Ich habe mich einerseits auf die Einheit gefreut, auf die Wiedervereinigung, und auf der anderen Seite hielt ich diesen Einigungsvertrag oder den Beitritt als die zweitbeste Form, oder den zweitbesten Weg, zur Einheit Deutschlands zu gelangen.

    Meurer: Sie haben also damals dagegen gestimmt?

    Schulz: Ich habe gegen diesen Einigungsvertrag gestimmt, nicht gegen die Einheit, sondern gegen diesen Vertrag, der ja mit großem Druck zu Stande gekommen ist, oder mit großem Zeitdruck. Es war eine Sturzgeburt, eine Bauch über Kopf-Vereinigung gewesen. Im Wesentlichen ist es ein Kompendium der bundesdeutschen Gesetzgebung der letzten 40 Jahre, also bis 89, anwendungsbereit oder praxistauglich für die DDR zurechtgestutzt.

    Aber ich hätte mir gewünscht, dass wir uns die Zeit genommen hätten - und die hätten wir gehabt nach dem 2+4-Vertrag, nachdem die völkerrechtliche Seite der Einigung geklärt war -, eine Inventur in Ost und West zu machen, also zu überlegen, was ist tauglich, was wird sich bewähren oder hat sich bewährt, was muss fortgeführt werden, was muss modernisiert werden in diesem geeinten Deutschland, dass es nicht so weitergehen kann. Eine nur erweiterte Bundesrepublik, ein erweitertes Westdeutschland, dass wir dann auf Schwierigkeiten stoßen würden, das war absehbar.

    Meurer: Also Sie wollten damals eine gemeinsame Verfassung haben, über diesen berühmten Artikel 146 des Grundgesetzes, und eben keinen Beitritt?

    Schulz: Richtig.

    Meurer: Aus heutiger Sicht, war das eine Illusion?

    Schulz: Nein, nein. Es war ein Vermächtnis der friedlichen Revolution. Der Ur-Slogan war ja nicht, wir sind ein Volk, sondern wir sind das Volk, und das ist der Anspruch an direkte Demokratie, an Mitbestimmung. Dieser Wunsch ist nach wie vor in unserer Bevölkerung vorhanden. Schauen Sie sich nur die letzte Wahl des Bundespräsidenten an. Eine Mehrheit der Deutschen wünscht sich die Direktwahl des Präsidenten, dass das endlich nicht mehr in den Hinterzimmern der Parteien geklärt wird, dass Koalitionen ihren Bundespräsidenten aufstellen, sondern wir haben die demokratische Reife erreicht – und das hat das Jahr 89 gezeigt, der wirklich eigene Weg der Ostdeutschen zur Demokratie, diese Selbstbefreiung und die 40 Jahre Demokratieerfahrung der Bundesrepublik insgesamt gezeigt -, dass das deutsche Volk reif ist für Mitbestimmung, für direkte Demokratie.

    Meurer: Wären das nur punktuelle Veränderungen gewesen, Herr Schulz, oder hätten Sie den Westdeutschen zugemutet, das ganze Grundgesetz wird auf den Kopf gestellt, außer vielleicht die ersten zehn Artikel, und es gibt eine neue Verfassung?

    Schulz: Nein, nein. Wir hatten ja am Runden Tisch in fieberhaften Nächten eine Verfassung entworfen, Verfassung des Runden Tisches, und die ist davon ausgegangen, dass die Grundlage das Grundgesetz ist. Also wenn Sie so wollen 95 Prozent Grundgesetz und fünf Prozent Erfahrungen aus der zweiten Diktatur, diesem Überwachungsstaat der DDR, die dazugekommen wären. Eine, wenn Sie so wollen, etwas modernisierte Verfassung, aber im Wesentlichen das Grundgesetz, eben beispielsweise die Einlösung des Artikel 146, dass sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine Verfassung gibt. Denn wir haben streng genommen immer noch keine Verfassung, sondern wir haben ein Grundgesetz. Das ist ein Provisorium, was man damals 49 in Kraft gesetzt hat, weil man auf die Deutsche Einheit hoffte. Also es war für den einzigartigen historischen Moment gedacht, dass Deutschland wieder zusammenkommt. Dafür war dieser 146 gedacht.

    Ich weiß nicht, ob die Bundeskanzlerin heute bei ihrer Festansprache sich daran erinnert, dass sie mal einer Partei angehörte wie dem Demokratischen Aufbruch. Die hatten mehr vor als nur den Beitritt zur Bundesrepublik, sondern schauen Sie, diese Diskussion, die wir heute führen, ob wir 16 Bundesländer brauchen, die Steuerreform-Debatte, die sich seit 20 Jahren dahinschleppt, und wir haben noch keine echte Steuererleichterung oder wirkliche Reform erlebt.

    Meurer: Es ging damals auch um materielle Dinge, gerade um materielle Dinge, zum Beispiel um diesen berühmten Passus "Rückgabe vor Entschädigung", also Immobilien, Grundstücke in der DDR wurden zurückgegeben an ihre Eigentümer, die jetzt in Westdeutschland lebten. War das damals ein Punkt, der auch Sie aufgeregt hat?

    Schulz: Ja, unterschiedlich. Das ist eine sehr schwierige und diffizile Frage, weil in der DDR sind natürlich auch willkürliche Enteignungen durchgeführt worden. Schauen Sie, allein bei der Bodenreform sind beispielsweise Herrengüter enteignet worden von Leuten, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur gekämpft haben und die dann, man müsste schon sagen, zynisch das Recht bekommen haben, ihr Eigentum zurückzukaufen. Oder die Mauergrundstücke in Berlin, wo die Besitzer willkürlich in der Bernauer Straße enteignet worden sind, und letztendlich mussten sie sich das dann von der Bundesrepublik zurückkaufen, ihr eigenes Eigentum.

    Meurer: Die Bodenreform würden Sie rückgängig machen?

    Schulz: Bitte?

    Meurer: Die Bodenreform würden Sie rückgängig machen?

    Schulz: Man muss sich das differenziert anschauen, wer ist da enteignet worden, mit welchem Recht hat man Leute enteignet, hat ihnen das Eigentum weggenommen. Aber wenn Sie so wollen, ist natürlich auch ein ganzes Volk enteignet worden, die Ostdeutschen, denn die haben ihr Mehrprodukt in das Volkseigentum eingebracht, haben jahrzehntelang niedrige Löhne bekommen und all das, was erwirtschaftet worden ist, ist ins Volkseigentum gegangen. Kaum jemand hat Eigentum am Ende der Auflösung der DDR bekommen, und Eigentum verpflichtet. Man hätte ihnen wenigstens die Wohnung überlassen können. Aber so ist das Ganze für ein Appel und ein Ei verscherbelt worden und heute haben wir die Vermögenden eher in Westdeutschland und die Enteigneten in Ostdeutschland. Natürlich schafft das Frust und schafft das diese Spannungen, die wir heute auch erleben.

    Meurer: Herr Schulz, zwei Jahrzehnte sind seitdem vergangen. In den neuen Ländern grassiert teilweise die Ostalgie, während im Westen unerbittlich darauf gepocht wird, die DDR war ein Unrechtsstaat. Wie sollte man auf den untergegangenen Staat DDR zurückschauen?

    Schulz: Also die DDR war ein Unrechtsstaat. Da gibt es für mich überhaupt kein Vertun. Man kann sich über diesen Begriff noch ereifern, ob der nun juristisch und völkerrechtlich korrekt ist, aber Unrecht hat es in diesem Staat in Massen gegeben. Das, glaube ich, definiert diesen Staat sehr gut.

    Ostalgie wird auch ein bisschen durch Ostalgysi geschürt. Da ist auch eine Partei mit am Werke, die versucht, nach dem Motto "Es war nicht alles schlecht" das heute so weit zu drehen, dass man sagt, es war sogar vieles besser. Das stimmt so überhaupt nicht. Aber es ist auf der anderen Seite natürlich auch richtig, dass es Dinge gab, die wir hätten nicht leichtfertig wegwerfen sollen.

    Schauen Sie, dieses Erstaunen, dass wir im Zusammenhang mit Pisa plötzlich in Finnland entdeckt haben, dass dort das Schulsystem der DDR eingeführt worden ist, natürlich ohne den ideologischen Ballast, sondern einfach dieses polytechnische Oberschulsystem, also eine praktisch naturwissenschaftlich-technische Ausbildung, die Schüler sind länger zusammen geblieben, das hat den Leistungsschwächeren geholfen, allerdings auch den Leistungsstarken soziale Kompetenzen abverlangt. Und wir müssten uns heute nicht um ingenieurtechnischen Nachwuchs kümmern, denn in der DDR haben selbst Frauen den Diplomingenieur geschafft und sind dafür motiviert worden. Also dieses Schulsystem als solches, als System ist durchaus interessant gewesen. Oder Polikliniken und vieles andere mehr. Also nicht nur der grüne Pfeil und das Ampelmännchen waren interessant aus der DDR.

    Wir haben uns die Zeit nicht genommen, wir haben das zu schnell gemacht, und das sind im Grunde genommen die traurigen Momente. Aber insgesamt, muss ich sagen, überwiegt meine Freude und ist es eine große Erfolgsgeschichte, was seitdem gelaufen ist, mit großer Unterstützung, finanzieller Unterstützung und ideologischer, politischer Unterstützung von vielen Westdeutschen, die sich auch persönlich im Osten engagiert haben und zu diesem Aufbau beigetragen haben.

    Meurer: Vor 20 Jahren wurde der Einigungsvertrag zwischen DDR und Bundesrepublik unterzeichnet. Ich sprach mit Werner Schulz von den Bündnis-Grünen. Danke, Herr Schulz, auf Wiederhören!

    Schulz: Auf Wiederhören!
    Menschen aus Ost und West feiern die Maueröffnung am Postdamer Platz in Berlin.
    Menschen aus Ost und West feiern die Maueröffnung am Postdamer Platz in Berlin. (AP)